L(i)ebenswert (German Edition)
und beugten ehrerbietig die Köpfe vor ihm. Sie erkannten ihn sofort als das, was er war. Es war beängstigend. Und ja, er konnte es nicht leugnen, es war auch ein wenig berauschend, dieses Wissen, dass sein Äußeres ihm Macht über alles und jeden gab. Er musste sich zwingen daran zu denken, warum er diese Macht hatte: Nicht, weil er es sich durch Leistung verdient hatte, sondern weil er einem grausamen Tyrannen ähnelte. Sein Blut teilte. Sonst nichts.
Er wehrte sich nicht gegen den Söldner, trotzdem hielt dieser sein Handgelenk umklammert und ließ ihn nicht für einen Moment los, bis sie von dem Diener, der ihnen voranschritt, in einen Raum gebeten wurden, wo sie warten mussten.
„Setz dich!“
Dieser harsche Befehl war ungefähr der zwölfte Satz, den der Söldner in vier Tagen an ihn gerichtet hatte. Der Mann hatte ihn nicht misshandelt, aber klar gemacht, dass er sich nicht scheuen würde es zu tun. Er schien ihn tatsächlich als lebende Ware zu betrachten, als eine Art Juwel auf zwei Beinen. Ninosh hockte sich mit gesenktem Kopf auf eine Bank. Er konnte und wollte nicht denken, nichts fühlen … Er war so unglaublich müde.
Als er hörte, wie jemand den Raum betrat und sich leise mit dem Söldner unterhielt, blieb er regungslos sitzen. Familie. In wenigen Momenten würde er seine Familie kennenlernen. Menschen, mit denen er nie etwas zu tun gehabt hatte. Die sein Leben zerstört und ihm alles genommen hatten, was er liebte.
„Ist er das?“, fragte eine tiefe, recht angenehme Stimme.
Eine Hand legte sich behutsam auf seine Schulter, eine andere unter sein Kinn und brachte ihn dazu aufzuschauen. Lange wurde er gemustert und schließlich mit einem warmen Lächeln bedacht.
„Ich bin dein Bruder Caval, Ninosh. Willkommen daheim.“
In seiner Vorstellung waren seine Brüder ihm stets so ähnlich wie Zwillinge gewesen und sein Vater einfach nur eine ältere Ausgabe von ihnen. Caval wirkte jedoch nicht wie sein Spiegelbild. Ihre Gesichter waren ähnlich geschnitten, sie hatten beide dieses Grübchen am Kinn, das viele Frauen als ‚niedlich’ empfanden. Auch die Haarfarbe war gleich. Doch da waren zahlreiche kleine Unterschiede, die Ninosh beruhigten. Die Familienähnlichkeit war nicht zu leugnen, schlimmer war es nicht.
Caval schien um die dreißig zu sein. Er war teuer, ja protzig gekleidet, trug mehr Schmuck als Ninoshs Mutter an den höchsten Festtagen, ihn umgab eine gewisse Aura von Arroganz. Sein Lächeln war allerdings freundlich und es erreichte auch die Augen, die ein intensiveres Blau besaßen als Ninoshs.
„Warte einen Moment, ich muss nur kurz etwas mit deinem Begleiter absprechen.“
Ninosh ließ den Kopf wieder sinken und blieb still, bis Caval zu ihm trat und ihn mit einer Geste aufforderte, ihm zu folgen. Der Söldner war verschwunden, worüber Ninosh froh war.
„Du hast Glück, wir wollten uns gerade zum Essen niederlassen. Es gibt keine bessere Möglichkeit, sich kennenzulernen, als bei einem guten Essen. Du bist sicher hungrig nach der langen Reise?“
Sein Bruder sprach auf ihn ein, während er ihn durch verschiedene Gänge führte, ohne sich daran zu stören, dass Ninosh mit keiner Silbe antwortete. Ihn kümmerte es wohl auch nicht, wie schmutzig und zerknittert er nach dem anstrengenden Weg hierher war, wie ärmlich seine Kleidung, wie groß seine Erschöpfung. So wie er war, unrasiert und abgerissen wie ein Bettler, wurde er zum König von Vjalach gebracht.
Sein Vater saß in einem prachtvoll mit Teppichen, Wandgemälden und allerlei Zierrat ausgestattetem Raum auf einem hohen Lehnstuhl am Kopf einer üppig gedeckten Tafel. Vier Männer leisteten ihm Gesellschaft. Sie alle waren sofort als seine Söhne zu erkennen. Ninoshs ältere Brüder.
„Diesmal war es kein falscher Alarm, Vater!“, rief Caval fröhlich. „Unser verlorener Bruder ist endlich heimgekehrt.“
„Dann soll er zu mir kommen, damit ich ihn ansehen kann.“
Es war verwirrend, die Stimme des Mannes zu hören, den er den größten Teil seines Lebens über gehasst und gefürchtet hatte. Ninosh hatte eine laut polternde, unangenehme Stimme erwartet, stattdessen sprach sein Vater leise und klangvoll.
Ein wenig scheu trat er zum Tisch heran, sich allzu sehr bewusst, dass seine Brüder ihn intensiv musterten. Vom Gesicht her glichen sie sich und ihm tatsächlich stark, doch jeder besaß eine eigene Persönlichkeit. Keiner wirkte wie ein sadistischer Mörder, primitiver Trunkenbold, Kinderschänder,
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