L(i)ebenswert (German Edition)
‚gerechte Sache’ kämpfen solle. Meine Mutter hat ihren Schmuck und alles was sie sonst an Wert besaß verkauft und sich damit die Dienste einiger vertrauenswürdiger Männer gesichert, die mich fortbrachten. Ich habe damals nicht verstanden, warum ich nachts aus dem Bett geholt, auf ein Pferd gesetzt und von irgendwelchen Fremden regelrecht entführt wurde. Tagelang ritten wir durch die Lande, immer nur bei Dunkelheit, und übernachteten ausschließlich im Freien, obwohl es kaum Frühling geworden war und häufig noch schneite. Später erfuhr ich, dass wir von Königsgetreuen verfolgt wurden und mehrmals daran scheiterten, die Grenzen von Vjalach zu überqueren. Irgendwann wurde ich in einem Kloster abgeladen. Die Männer, die nie eine meiner Fragen beantwortet hatten, versicherten, dass meine Mutter mich holen käme, wenn die Lage sicherer geworden war. Die Priester steckten mich in einen Lumpenkittel und machten mich zum Viehhirten. Das war unauffälliger, als wenn sie mich beim Landesherrn als Novizen hätten angeben müssen. Monatelang war ich von allen Nachrichten abgeschnitten. Ich wusste nichts über den Krieg, oder wie es meiner Mutter ging. Man ließ mich Briefe an sie schreiben, ich denke aber nicht, dass ein einziger davon abgeschickt wurde. Nach etwa einem Jahr ließ man mich wissen, dass sie das Land ohne mich verlassen habe.“
Dutzende Male hatte Ninosh versucht, aus dem Kloster zu fliehen, um ihr zu folgen. Jedes Mal wurde er erwischt und hart bestraft, bis sich jemand ein Herz fasste und ihm verriet, dass seine Mutter, kurz nachdem er fortgebracht worden war, von den Boten seines Vaters mitgenommen wurde. Sie war tot, ob unterwegs gestorben oder von der Hand ihres Ehemannes getötet, dass wussten die Priester nicht.
„An diesem Tag endete meine Kindheit endgültig“, flüsterte er. Geron drückte ihm tröstend die Hände. Es fühlte sich erstaunlich gut an, alles rauszulassen, was er so viele Jahre mit sich geschleppt hatte.
„Danach hat sich wenig für mich geändert. Ich blieb Viehhirte, lebte im Dreck, schlief in nassem Stroh, bekam schlechtes Essen und häufig Schläge. Die anderen Hirten ahnten zwar nicht, wer ich war, wollten mich aber nicht akzeptieren, denn der Klostervorsteher sprach zu häufig und zu vertraulich mit mir. Die Priester mussten mich woanders unterbringen, als der König sich gegen sein eigenes Volk zu wenden begann. Das Kloster wurde durchsucht, da Gerüchte über meine Anwesenheit nach außen gedrungen waren. Von da an trug ich Tag und Nacht ein Priestergewand, durfte nie die Kapuze vom Kopf nehmen und arbeitete im Klostergarten, während man allen Hirten und sonstigen Arbeitern im Kloster, die nicht direkt zur Priesterschaft gehörten, von meiner Flucht nach Habbuka erzählte, wo ich angeblich auf einem Schiff angeheuert hätte. Wenn ich gerade kein Unkraut zu jäten oder Tomaten zu ernten hatte, war ich auf meine Kammer beschränkt, wo ich auch gegessen und alles andere getan habe.“
„Du warst also mehr oder weniger eingesperrt?“ Gerons Ausdruck verriet, wie sehr ihm missfiel, was er da hörte, dabei war es die geschönte Fassung … Ninosh wollte nicht über die endlosen Stunden in Einsamkeit reden, über die Ängste, wann immer sich seine Tür öffnete – Angst, man könnte ihn ausliefern, an seinen Vater oder den wütenden Mob. Angst vor der Strafe für das, was er aufgrund seiner Geburt war …
„Es war eine schwierige Zeit. Überstanden habe ich sie nur, weil einer der Priester regelmäßig zu mir kam. Tanivar. Er war bloß wenige Jahre älter als ich und hat mich davon abgehalten, Selbstmord zu begehen oder mein Gesicht so zu verunstalten, dass nicht einmal meine Mutter mich wieder erkennen würde.“
Tanivar hatte ihn außerdem in die Liebe eingeführt. Ninosh hatte zu jedem Zeitpunkt gewusst, dass sich dieser Mann ausschließlich für seinen jugendlichen Körper interessierte und die Tatsache ausnutzte, dass Ninosh einsam und ungeschützt war. Niemand hätte ihm geholfen, wenn er darum gebeten hätte. Tanivar hatte ein Nein nicht akzeptiert, war allerdings nie brutal geworden, hatte vielmehr versucht, ihn mit Zärtlichkeiten zu überreden, bis Ninosh ihn gewähren ließ. Als Ninosh nach dem ersten Mal geweint hatte – es war schmerzhaft und unangenehm gewesen – war Tanivar bei ihm geblieben und hatte ihn gehalten. Und ja, er hatte mit ihm geredet und ihn davon überzeugt, dass Ninosh kein Recht hatte, sich zu verstümmeln oder
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