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Lieber Dylan

Lieber Dylan

Titel: Lieber Dylan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Siobhan Curham
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gewickelt und hielt Michaela auf seinen Knien. Sie sangen »Imse, bimse, Spinne«. Ich bin geradewegs an ihnen vorbeigegangen und habe die Scherben in den Mülleimer geworfen. Dann bin ich zum Herd gegangen und habe die Platte wieder angestellt. »Ist schon gut«, sagte der Ton-Zerstörer hinter mir. »Das mache ich selbst. Du gehst mit deiner Schwester ein bisschen raus.« Und als ich mich umdrehte, hielt er einen Zwanzig-Pfund-Schein in der Hand. »Geh mit ihr ins Kino oder so was«, sagte er, und dieses Mal benutzte er seine sanfte Michaela-Stimme für mich. Es fühlte sich alles ein bisschen wie ein Traum an, also nahm ich ihm das Geld so schnell wie möglich ab für den Fall, dass ich aufwachen sollte.
    Wir mussten den ganzen Weg bis zum Workshop rennen, und trotzdem kamen wir fünfzehn Minuten zu spät. Glücklicherweise war Debbie nicht sauer deswegen, aber ich sah, wie Jessica mich mit einem Stirnrunzeln ansah und den Kopf schüttelte. Dann flüsterte sie den beiden Kates etwas zu, und die fingen an zu kichern. Bei dem ganzen Drama bei uns zu Hause hatte ich die dämliche Bärchen-Kappe völlig vergessen, aber trotz der Peinlichkeit wusste ich, dass sie noch immer um Längen besser war als die fettigen Haare darunter, also ignorierte ich sie und wandte mich ab.
    Als Erstes setzten wir uns heute im Kreis hin und machten eine Leseprobe des ganzen Stücks. Debbie hat gesagt, alle professionellen Schauspieler machen das, bevor sie mit ihren Proben beginnen, also nehme ich an, dass du alles darüber weißt?
    Glaubst du, dass, wenn in dem Moment, in dem du morgens aufstehst, etwas Schreckliches passiert, der restliche Tag auch schiefgeht? So war jedenfalls dieser Tag für mich. Zuerst kein Wasser und fettige Haare. Dann der Ton-Zerstörer, der durchgeknallt ist. Dann musste ich mit einer Bärchen-Kappe bei den Proben erscheinen. Und dann habe ich auch noch meine Leseprobe total in den Sand gesetzt. Gleich am Anfang habe ich meine erste Zeile total falsch gelesen und zu Jamie »Mund den Halt« gesagt statt »Halt den Mund«! Und dann fingen natürlich meine Wangen an zu brennen, und die Hitze muss meine Augen geschmolzen haben oder so was, denn die Worte auf meinem Skript begannen alle wie Fische herumzuschwimmen. Jessica saß mir gegenüber, und ich konnte sie jedes Mal, wenn ich einen Fehler machte, seufzen hören. Sofort als Debbie uns eine Pause machen ließ, rannte ich zu den Toiletten. Ich weiß nicht, wie ich es geschafft habe, nicht zu weinen   – ich glaube, es war die Angst, zu den fettigen Haaren und der dämlichen Kappe auch noch rote Augen zu haben. Als ich mich endlich zusammengerissen hatte und aus der Toilette kam, saß Jamie Phelps auf dem Fensterbrett im Korridor und starrte nach draußen. Ich schämte mich so sehr, sodass ich versuchte, mich an ihm vorbei wieder in die Halle zu schleichen, aber gerade als ich auf gleicher Höhe mit ihm war, sagte er: »Sieh mal.« Ich blieb wie angewurzelt stehen und fragte: »Was?«   – »Sieh mal«, wiederholte er, drehte sich noch immer nicht um, nickte aber in Richtung Himmel. Ich folgte seinem Blick und sah eine einzelne Wolke vorbeiziehen, deren Ränder von der Sonne ganz rosig und golden waren. »Das bringt einen zum Nachdenken, oder?«, fragte er. Ich nickte, obwohl ich eigentlich keine Ahnung hatte, was er meinte. Dann rief uns Debbie, die Pause war vorbei, und wir mussten wieder hineingehen.
    Danach liefen die Dinge ein bisschen besser. Wir waren mit der Leseprobe beim zweiten Akt angekommen, und als Jessica ihren Eröffnungssong sang (natürlich wirklich gut   – und ihr langes blondes Haar war ganz glänzend und fettfrei), dachte ich an das, was Jamie über die Wolke gesagt hatte, und versuchte mir vorzustellen, aufwas für Gedanken sie ihn gebracht hatte. Dass wir so tun sollten, als seien wir genau wie die Wolken und würden völlig sorgenfrei vorbeifliegen, auch wenn unsere Haare wie ein Ölteppich aussehen und unsere Mutter mit einem Psychopathen verheiratet ist? Dass das Universum so enorm gigantisch ist, dass unser Leben und unsere Probleme eigentlich überhaupt nicht so viel bedeuten? Dass Wolken jede Menge unterschiedlicher Farben haben können, nicht nur grau und weiß? Ich konnte mich nicht entscheiden und wünschte, ich hätte den Mut, ihn zu fragen. Aber dann war unsere Szene dran, und als wir zu der Stelle kamen, wo Bugsy seinen Finger küsst und ihn Blousey auf die Nase tippt, konnte ich nicht anders und musste über mein Skript

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