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Lieber Feind

Lieber Feind

Titel: Lieber Feind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean Webster
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sei. Wir versuchten nicht, sie ins College zu zwingen, wenn sie nicht das nötige Hirn dazu hätten, wie es mit den Söhnen reicher Leute der Fall sei. Und wir steckten sie nicht, wenn sie von Natur strebsam seien, mit vierzehn Jahren in die Arbeit, wie es bei den Söhnen armer Leute vorkomme. Wir beobachteten sie genau, und jeden einzeln, um ihren Standard festzustellen. Wenn unsere Kinder eine Begabung zeigten, Landarbeiter oder Kindermädchen zu werden, würden wir ihnen beibringen, die bestmöglichen Landarbeiter und Kindermädchen zu sein; und wenn sie eine Neigung zeigten, Rechtsanwälte zu werden, würden wir sie zu ehrlichen, intelligenten, vorurteilsfreien Rechtsanwälten machen. (Er ist selbst Rechtsanwalt, aber sicher kein vorurteilsfreier.)
    Er grunzte, als ich mit meinen Erklärungen fertig war, und rührte heftig in seinem Tee. Darauf sagte ich; „Sie haben vielleicht noch ein Stück Zucker nötig“, warf es ein, und ließ ihn allein, damit er es sich zu Gemüte führe.
    Es gibt nur eine Art, mit Aufsichtsräten umzugehen: eine feste ruhige Hand. Man muß ihnen ihren Platz zeigen.
    Ach, meine Liebe! Der Schmutzfleck in der Ecke kommt von Singapurs schwarzer Zunge. Er möchte Dir einen liebevollen Kuß schicken. Der arme Sing glaubt, er sei ein Schoßhund — ist es nicht tragisch, wenn Leute ihren Beruf verkennen? Ich selbst bin allerdings auch nicht immer überzeugt, daß ich zur Leiterin eines Waisenhauses geboren wurde.
    Bis in den Tod
    Deine
    S. McB.

    Büro der Vorsteherin,
    John-Grier-Heim,
    4. April.
    An die Familie Pendleton,
    Palm Beach, Florida.
    Gnädiger Herr und gnädige Frau!
    Ich habe meinen ersten Besuchstag überstanden und den Aufsichtsräten eine wunderschöne Rede gehalten. Alle sagten, es sei eine wunderschöne Rede gewesen — sogar meine Feinde.
    Mr. Gordon Hallocks jüngster Besuch kam besonders gelegen; denn von ihm bekam ich viele Winke, wie man eine Zuhörerschaft mitreißen muß.
    „Komisch sein.“ — Ich berichtete über Sadie Kate und einige andere Engel, die Ihr nicht kennt.
    „Konkret und im Rahmen der Intelligenz der Zuhörer bleiben.“ — Ich beobachtete den ehrenwerten Cy und sagte nichts, was er nicht verstehen konnte.
    „Den Zuhörern schmeicheln.“ — Ich deutete zart an, daß alle diese neuen Reformen der Weisheit und Initiative unserer unvergleichlichen Aufsichtsräte entsprängen.
    „Einen hohen moralischen Ton mit einer Prise Pathos verwenden.“ — Ich verbreitete mich über den elternlosen Zustand dieser kleinen Mündel der Gesellschaft. Es war sehr wirkungsvoll — mein Feind wischte sich eine Träne aus dem Auge!
    Dann fütterte ich sie mit Schokolade und Schlagrahm und Limonade und Tatarenbrötchen, und schickte sie strahlend und gut gelaunt, aber ohne Appetit fürs Abendessen, nach Hause.
    Ich verweile so lange bei diesem unserem Triumph, um Euch in günstige Stimmung zu versetzen, bevor ich zu dem schrecklichen Unglück komme, das den Tag fast verdorben hätte.
    „Nun folgt der dämmrige Schrecken meiner Geschichte,
    Und ich fühl’ mein Erblassen, indem ich berichte,
    Denn obwohl am heutigen Tag
    Der Geruch sich verflogen hat,
    Erheb’ ich, sooft meine Gedanken zurück ich richte.“
    Ihr habt wohl noch nie von unserem kleinen Tammas Kehoe gehört? Ich habe Tammas nur deshalb noch nicht vorgeführt, weil er so viel Tinte, Zeit und Wortschatz erfordert. Er ist ein hochgemute - Bursch, und er folgt seinem Vater, der in alten Zeiten ein großer Jäger war, — das klingt fast wie die Bab Balladen, aber ich habe es beim Schreiben ausgedacht.
    Wir können unserem Tammas die ererbten räuberischen Instinkte nicht austreiben. Er schießt die Hühner mit Pfeil und Bogen, fängt Schweine mit dem Lasso, spielt Stierkampf mit den Kühen — und ist überaus zerstörerisch! Aber seine krönende Untat ereignete sich eine Stunde vor der Aufsichtsratssitzung, als wir gerade so sauber und süß und einnehmend sein wollten.
    Er hatte offenbar eine Rattenfalle aus der Haferkiste gestohlen und im Wald aufgestellt, und war gestern früh so glücklich, ein feines großes Stinktier zu fangen.
    Singapur war der erste, der die Entdeckung mitteilte. Er kam ins Haus zurück und wälzte sich wegen seines Anteils an dem Unternehmen in reumütiger Raserei auf den Teppichen. Während unsere Aufmerksamkeit von Sing beansprucht wurde, war Tammas eifrig dabei, seine Beute in der Abgeschiedenheit der Scheune zu häuten. Er knöpfte das Fell in seiner Jacke ein, brachte es

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