Lieber Feind
nachmittags im John-Grier-Heim hereinzuschauen.“
„Hm!“ knurrte Mrs. McGurk und schloß die Tür so schnell, daß sie meinen Rocksaum einklemmte.
Als ich dem Doktor heute nachmittag davon erzählte, zuckte er mit den Schultern und bemerkte, das sei eben Maggies huldvolle Art.
„Und warum behalten Sie Maggie?“ sagte ich. „Und wo würde ich eine bessere finden?“ sagte er. „Für einen einsamen Mann zu arbeiten, der so unregelmäßig zu den Mahlzeiten kommt, wie es die vierundzwanzig Stunden des Tags erlauben, ist nicht gerade ein Ausruheposten. Sie verbreitet wenig Sonnenschein im Haus, aber sie bringt es fertig, abends um neun Uhr eine heiße Mahlzeit aufzutischen.“
Trotzdem bin ich sicher, daß ihre heißen Essen weder köstlich noch gut serviert sind. Sie ist eine untüchtige, faule, alte Hexe, und ich weiß, warum sie mich nicht mag. Sie bildet sich wohl ein, daß ich ihren Doktor wegstehlen und sie aus einer angenehmen Stellung verjagen will, was unter den Umständen ein rechter Witz ist. Aber ich kläre sie nicht auf. Es wird dem alten Ding ganz gut tun, sich ein wenig
zu beunruhigen. Vielleicht kocht sie ihm nun bessere Mahlzeiten und füttert ihn ein wenig heraus. Soviel ich weiß, sind dicke Männer gutmütig.
Zehn Uhr.
Ich weiß nicht, was für dummes Zeug ich Dir den ganzen Tag zwischen den vielen Unterbrechungen geschrieben habe. Endlich ist es Nacht geworden, und ich bin zu müde, um auch nur den Kopf hochzuhalten. Dein Lied sagt eine traurige Wahrheit: „Es gibt keine Freude im Leben außer Schlaf.“
Ich sage Dir eine gute Nacht.
S. McB.
J.G.H.,
1. April.
Liebe Judy!
Ich habe Isador Gutschneider untergebracht. Seine neue Mutter ist eine Schwedin, fett, lachend, mit blauen Augen und gelbem Haar. Sie wählte ihn aus der ganzen Kinderstube heraus, weil er das brünetteste Kind war. Sie hat immer die Brünetten geliebt, aber in ihren kühnsten Träumen nicht gedacht, daß sie einmal ein eigenes haben werde. Sein Name wird in Oskar Carlson verwandelt, nach seinem neuen verstorbenen Onkel.
Meine erste Aufsichtsratssitzung naht am nächsten Mittwoch. Ich gestehe, daß ich ihr nicht gerade mit Ungeduld entgegensehe, vor allem, weil meine Einführungsrede den Hauptteil ausmachen wird. Ich wollte, der Präsident wäre hier, um mir den Rücken zu steifen! Aber eins weiß ich sicher. Ich werde nie die unterwürfige Haltung gegenüber Aufsichtsräten einnehmen, die für Mrs. Lippett bezeichnend war. Ich werde die „ersten Mittwoche“ als angenehme gesellschaftliche Unterhaltung betrachten, meinen „jour fixe“, an dem die Freunde der Anstalt zu Gespräch und Ausspannung Zusammenkommen; und ich werde mich bemühen, daß unser Wohlergehen die Waisen nicht stört. Du siehst, wie ich mir die unglücklichen Erlebnisse der kleinen Jerusha zu Herzen genommen habe.
Dein letzter Brief ist gelandet und enthält keine Andeutung, daß Ihr nordwärts reist. Wäre es nicht an der Zeit, daß Ihr Euch zur Fünften Avenue zurück begebt: To Hus is to Hus, un wenn et ock nich fein is. Staunst Du nicht über das Schottisch, das glatt aus meiner Feder fließt? Seit ich Sandy kenne, habe ich allerhand neue Ausdrücke gelernt.
Der Gong zum Essen! Ich verlasse Dich, um mich eine halbe Stunde lang mit Hammelhaschee neu zu beleben. Im John-Grier-Heim ißt man, um zu leben.
Sechs Uhr.
Der ehrenwerte Cy hat schon wieder Besuch gemacht. Er schaut sehr häufig herein, in der Hoffnung, mich auf frischer Tat zu ertappen. Wie mir der Mann zuwider ist! Er ist ein rosanes, fettes, aufgeschwemmtes altes Ding, mit einer rosanen, fetten, aufgeschwemmten Seele. Ich war, bevor er kam, bester Laune und voll Optimismus, aber jetzt werde ich den Rest des Tags nur noch brummig sein.
Er beklagt alle unnützen Neuerungen, mit denen ich mir so viel Mühe gebe, als da sind: ein heiteres Spielzimmer, hübschere Kleider, Bücher, besseres
Essen, frische Luft, Spiele, Lustig-Sein, Eis und Küsse. Er sagt, es wird die Kinder unfähig machen, die Stellungen im Lehen einzunehmen, zu denen Gott sie berufen habe.
Das hat denn doch mein irisches Blut in Wallung gebracht, und ich sagte ihm: wenn Gott beabsichtige, alle 113 kleinen Kinder zu unfähigen, unwissenden, unglücklichen Bürgern zu machen, dann würde ich Gott hintergehen. Wir dächten gar nicht daran, sie über ihren Stand hinaus zu erziehen. Im Gegenteil, wir brächten sie viel sicherer in die ihnen natürlichen Stellungen, als das in der Durchschnittsfamilie der Fall
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