Lieber Feind
dessen das „Tagebuch der Marie Baschkirtseff“. Erinnerst Du Dich, wie wir im College unsere Reden mit Zitaten aus Marie bereichert haben? Sandy hat sie also nach Hause genommen und sorgfältig gelesen. „Ja“, sagte er heute, als er seinen Bericht darüber abgab, „es ist die wahrheitsgetreue Geschichte einer bestimmten Art morbider egoistischer Persönlichkeiten, die es tatsächlich gibt; aber ich kann nicht verstehen, warum Sie so etwas lesen mögen; denn, Gottseidank, Sally Limn, haben Sie und Basch nichts gemeinsam.“
So nah an ein Kompliment ist er noch nie gekommen, und ich fühle mich enorm geschmeichelt. Was die arme Marie betrifft, so nennt er sie nur „Basch“, weil er ihren Namen nicht aussprechen kann, und seine Verachtung zu tief ist, als daß er es versuchen würde.
Wir haben hier ein Kind, die Tochter einer Choristin, und sie ist eine eingebildete, selbstsüchtige, eitle, unechte, morbide, lügnerische kleine Hexe, — aber die Augenwimpern! Sandy hat gegen dieses Kind die heftigste Abneigung gefaßt; und seitdem er das Tagebuch der armen Marie gelesen hat, hat er ein neues umfassendes Eigenschaftswort erdacht, das alle ihre betrüblichen Anlagen zusammenfaßt. Er nennt sie „baschig“ und lehnt sie ab.
Adieu. Komm bald wieder.
Sallie.
PS. Meine Kinder zeigen eine betrübende Neigung, ihr ganzes Geld vom Bankkonto zu holen, um Süßigkeiten zu kaufen.
Meine liebe Judy!
Was meinst Du, daß Sandy jetzt getan hat? Er hat eine Vergnügungsreise nach der psychopathischen Anstalt unternommen, deren oberster Arzt uns vor ungefähr einem Monat besucht hat. Ist Dir schon je so ein Mann begegnet? Verrückte haben es ihm offenbar angetan, und er kann von ihnen nicht lassen.
Als ich zum Abschied um einige ärztliche Weisungen bat, sagte er: „Fret veel bi’m Snuppen, un ät nicks bi’n Bukweh, un laat de Dokters lopen.“
Mit diesem Ratschlag und einigen Flaschen Lebertran bleiben wir uns selbst überlassen. Ich fühle mich sehr frei und abenteuerlustig. Vielleicht wäre es gut, wenn Du bald wieder heraus kämst, denn man kann nie wissen, was für freudige Umstürze ich vollbringen werde, wenn ich nicht unter Sandys dämpfendem Einfluß stehe.
S.
Das John-Grier-Heim,
Freitag.
Lieber Feind!
Ich bin hier an den Mast angebunden, während Sie im Land umherfahren und sich mit Irren amüsieren. Und das gerade, als ich glaubte, daß ich Sie von dieser morbiden Vorliebe für psychopathische Anstalten kuriert hätte! Es ist sehr enttäuschend. Sie . waren mir neuerdings fast menschlich vorgekommen.
Darf ich fragen, wie lange Sie auszubleiben gedenken? Sie hatten die Genehmigung für zwei Tage und sind nun schon vier Tage fort. Charlie Martin ist gestern von einem Kirschbaum heruntergefallen, hat sich den Kopf aufgeschlagen, und wir waren gezwungen, einen fremden Doktor zu rufen. Fünf Stiche. Patient bei gutem Befinden. Aber wir schätzen es nicht, von Fremden abhängig zu sein. Ich würde kein Wort sagen, wenn Sie etwas Berechtigtes vorhätten; aber Sie wissen ganz genau, daß Sie, nachdem Sie eine Woche lang mit Melancholikern zusammen waren, in einem fürchterlichen Zustand des Trübsinns zurückkommen werden und davon überzeugt, die Menschheit gehe vor die Hunde. Und ich muß es dann auf mich nehmen, Sie wieder einigermaßen vergnügt zu machen.
Überlassen Sie doch diese irren Leute ihren Wahnvorstellungen, und kommen Sie zum John-Grier-Heim zurück, das Sie nötig hat.
I am most fervent,
Your friend and servant. 4 )
S. McB .
PS. Bewundern Sie nicht diesen poetischen Schluß? Er stammt von Robert Burns, dessen Werke ich zur Zeit als Kompliment für einen schottischen Freund mit Eifer lese.
6. Juli.
Liebe Judy!
Dieser Mensch von einem Doktor ist immer noch weg. Kein Wort. Einfach in den leeren Raum verschwunden. Ich weiß nicht, ob er je zurückkehren wird. Aber hier läuft alles sehr glücklich ohne ihn weiter.
Gestern habe ich bei den beiden gütigen Damen zu Mittag gegessen, die unseren Punch in ihr Herz geschlossen haben. Der junge Mann scheint sehr zu Hause zu sein. Er hat mich an der Hand genommen und mir den Garten vorgeführt, wobei er mir die Glockenblume meiner Wahl überreichte. Beim Essen hat der englische Diener ihn in seinen Stuhl gesetzt und ihm seinen Latz umgebunden, als bediene er einen Prinzen von Geblüt. Der Diener ist kürzlich aus dem Haushalt des Grafen von Durham gekommen, Punch aus einem Keller in Houston Street. Es war ein sehr erhebender
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