Lieber Feind
Anblick.
Meine Gastgeberinnen unterhielten mich nachher mit Auszügen ihrer Tischgespräche während der letzten beiden Wochen. (Es wundert mich, daß der Diener nicht gekündigt hat, er sieht höchst respektabel aus.) Wenn sich schon nichts anderes daraus ergibt, so hat Punch sie wenigstens für den Rest ihres Lebens mit komischen Geschichten versorgt. Die eine denkt sogar daran, ein Buch zu schreiben. „Wenigstens“, sagte sie und wischte sich hysterische Lachtränen aus dem Auge, „haben wir gelebt!“
Der ehrenwerte Cy erschien gestern abend um 6.30 Uhr und fand mich im Abendkleid auf dem Weg zu einem Essen bei Mrs. Livermore. Er bemerkte milde, daß Mrs. Lippett nicht den Ehrgeiz gehabt habe, in der Gesellschaft führend zu sein, sondern ihre Kräfte für ihre Arbeit aufsparte. Du weißt, ich bin nicht rachsüchtig. Aber diesen Mann sehe ich nie an, ohne den Wunsch zu haben, daß er am Grund des Ententeichs liegt, fest mit einem Felsen verankert. Andernfalls würde er nämlich auftauchen und schwimmen.
Singapur schickt Dir seine gehorsamsten Grüße und ist sehr froh, daß Du ihn in seinem gegenwärtigen Zustand nicht sehen kannst. Ein entsetzliches Unglück ist über sein gutes Aussehen hereingebrochen. Ein böses Kind — und ich glaube nicht, daß sie ein Bub ist — hat das arme Tier fleckenweise geschoren, so daß es jetzt wie ein räudiges, mottenzerfressenes Schachbrett aussieht. Niemand kann sich vorstellen, wer es getan hat. Sadie Kate ist sehr geschickt mit der Schere; aber sie ist auch geschickt mit einem Alibi! Zur Zeit , als die Schur wahrscheinlich statt -fand, befand sie sich auf einem Schemel in einer Ecke des Schulzimmers, das Gesicht gegen die Wand, wie achtundzwanzig Kinder bezeugen können. Trotz dem muß Sadie Kate täglich die Stellen mit Deinem Haarmittel behandeln.
ich bin, wie immer
Sally.
PS. Dies ist ein neues Porträt des ehrenwerten Cy, nach dem Leben. Der Mann ist in mancher Hinsicht ein berückender Redner; er gestikuliert mit der Nase.
Donnerstag abend .
Liebe Judy!
Sandy ist nach zehntägiger Abwesenheit zurück — ohne jegliche Erklärung — tiefste Niedergeschlagenheit. Er ärgert sich über unsere freundlichen Anstrengungen, ihn aufzuheitern, und will mit uns allen nichts zu tun haben. Mit Ausnahme von Baby Allegra. Er hat sie gestern zum Abendessen mit nach Hause genommen und sie erst um halb acht Uhr zurückgebracht, was für ein dreijähriges junges Fräulein eine skandalöse Stunde ist. Ich weiß nicht, was ich von unserem Doktor halten soll, er wird jeden Tag unverständlicher.
Dagegen ist Percy ein offenherziger, vertrauensseliger junger Mann. Er hat gerade einen Abendbesuch gemacht (in gesellschaftlichen Angelegenheiten ist er peinlich korrekt); und unser ganzes Gespräch war dem Mädchen in Detroit gewidmet. Er fühlt sich einsam und spricht gerne über sie. Und was er dabei für schöne Sachen sagt! Ich hoffe, Miß Detroit ist dieser feinen Zuneigung wert, aber ich habe Angst. Er holte ein Lederetui aus der innersten Tasche seiner Weste, wickelte verehrungsvoll zwei Lagen Seidenpapier aus und zeigte mir die Photographie eines törichten kleinen Dings, — nichts wie Augen und Ohrringe und gelocktes Haar. Ich habe mich sehr angestrengt, beglückwünschend auszusehen, aber mein Herz zog sich vor Mitleid über die Zukunft des armen Jungen zusammen.
Ist es nicht komisch, wie die nettesten Männer oft die übelsten Frauen aussuchen, und die nettesten Frauen die übelsten Männer? Wahrscheinlich macht gerade ihre Nettigkeit sie blind und vertrauensselig.
Weißt Du, die interessanteste Tätigkeit der Welt ist das Charakterstudium. Ich glaube, ich war zum Romanschriftsteller bestimmt. Die Menschen nehmen mich so lange gefangen — bis ich sie gründlich kenne. Percy und der Doktor bilden einen höchst anziehenden Gegensatz. Man weiß zu jeder Zeit immer genau, was der nette junge Mensch denkt; er ist wie eine Fibel gedruckt, in großen Lettern und einsilbigen Worten. Aber der Doktor! Er könnte, was die Lesbarkeit angeht, ebensogut auf Chinesisch geschrieben sein. Von Leuten mit einer doppelten Natur hat man schon gehört; nun, Sandy besitzt eine dreifache. Meistens ist er wissenschaftlich und so hart wie Granit, aber hie und da habe ich den Verdacht, daß er hinter seiner offiziellen Aufmachung eine ganz sentimentale Person ist. Tagelang kann er geduldig und gut und hilfreich sein, und ich fange an, ihn gern zu haben; und dann bricht ohne jegliche Warnung
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