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Lieber Feind

Lieber Feind

Titel: Lieber Feind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean Webster
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jetzt an hat, erhöhen ihre Schönheit nicht, aber im Lauf von einigen Wochen wird sie sich in einem handgearbeiteten rosa Kleid bewegen.

Mittwoch, 24. Juni, 10 Uhr morgens.
    Frau Jervis Pendleton.
    Gnädigste!
    Ihr Brief mit der Mitteilung, daß Sie mich nicht, wie versprochen, am Freitag besuchen können, weil Ihr Mann geschäftlich in der Stadt bleiben muß, ist eingegangen. Was für ein Quatsch! Seid Ihr schon so weit, daß Du ihn keine zwei Tage allein lassen kannst?
    Mich haben 113 Babys nicht von meinem Besuch bei Euch abgehalten, und ich sehe wirklich keinen Grund, warum ein Gatte Dich verhindern sollte, mich zu besuchen. Ich werde, wie ausgemacht, am Freitag am Schnellzug nach Berkshire sein.
    S. McBride.

    30. Juni.
    Meine liebe Judy!
    Das war ein äußerst flüchtiger Besuch, den Du uns gemacht hast. Aber wir sind für alle kleinen Gaben dankbar. Ich freue mich ungeheuer darüber, daß Du so zufrieden damit warst, wie alles hier läuft, und ich kann es gar nicht erwarten, daß der Architekt und Jervis ankommen und das Einreißen erst richtig beginnt.
    Weißt Du, solange Du hier warst, hatte ich ein ganz komisches Gefühl. Es kommt mir ganz unwirklich vor, daß Du, meine liebe, wunderbare Judy, wirklich in dieser Anstalt aufgewachsen bist und aus eigener bitterer Erfahrung wissen sollst, was diese kleinen Würmer brauchen. Manchmal erfüllt mich die Tragödie Deiner Kindheit mit einem solchen Zorn, daß ich meine Ärmel aufkrempeln und den Kampf gegen die ganze Welt aufnehmen möchte, um sie zu zwingen, sich in einen Ort zu verwandeln, an dem Kinder besser leben können. Meine schottischirischen Vorfahren haben meinem Charakter offenbar eine Riesenmenge Kampflust mitgegeben.
    Wenn Du mich in eine moderne Anstalt gesetzt hättest, mit hübschen, sauberen, hygienischen Einzelhäusern und alles in bestem Gang, dann hätte ich die Eintönigkeit eines so vollkommenen Uhrwerks nicht ausgehalten. Aber gerade der Anblick so vieler Dinge, die nach Änderung schreien, macht mir das Bleiben möglich. Ich muß gestehen, daß ich manchmal am Morgen aufwache und dieses Anstaltsgeräusch höre, und die Anstaltsluft rieche, und mich nach dem glücklichen, sorgenfreien Leben sehne, das mir von Rechts wegen zusteht.
    Du, meine liebe Hexe, hast mich in Bann geschlagen, und ich bin ihm gefolgt. Aber nachts wird dieser Bann oft sehr fadenscheinig, und ich beginne den Tag mit dem brennenden Entschluß, vom John-Grier-Heim wegzulaufen. Aber ich verschiebe den Aufbruch bis nach dem Frühstück. Und wenn ich in den Gang hinaustrete, läuft eins von diesen hilflosen Kücken auf mich zu, schlüpft schüchtern ein warmes, geballtes Fäustlein in meine Hand und schaut mit weiten Kinderaugen zu mir herauf und bittet stumm um ein wenig Zärtlichkeit; dann hebe ich es auf und umarme es; und wenn ich über seine Schultern die anderen verlorenen kleinen Dinger ansehe, habe ich nur den Wunsch, sie alle in meine Arme zu schließen und liebzuhaben, bis sie glücklich sind. Diese Arbeit mit Kindern hat etwas Hypnotisierendes. Man kann sich wehren so viel man will, am Ende ergreift es einen doch.
    Dein Besuch scheint mich in einem höchst philosophischen Geisteszustand zurückgelassen zu haben; aber ich habe tatsächlich ein paar Neuigkeiten, die ich übermitteln könnte. Die neuen Kleider sind auf dem Weg, und — sie werden geradezu süß! Mrs. Livermore war bezaubert von den Ballen mehrfarbiger Baumwollstoffe, die Du geschickt hast — — Du solltest unser Nähzimmer sehen, wo es überall herumliegt --, und wenn ich an die sechzig Mädelchen denke, die in Rosa und Blau und Gelb und Lavendel an einem Sonnentag auf unserem Rasen spielen werden, dann meine ich, wir sollten eine Anzahl Sonnenbrillen für Besucher bereithalten. Natürlich weißt Du, daß einige dieser glänzenden Stoffe sehr schießen und höchst unpraktisch sein werden; aber Mrs. Livermore ist genau so schlimm wie Du, — es macht ihr gar nichts. Sie wird, wenn es nötig, eine zweite und dritte Ausstattung machen .

    NIEDER MIT KARIERTEM KATTUN!
    Es freut mich, daß der Doktor Dir gefiel. Natürlich behalten wir uns das Recht vor, über ihn zu reden, wie wir wollen. Aber es würde uns schon sehr kränken, wenn sich jemand anderes über ihn lustig machen wollte.
    Er und ich überwachen immer noch gegenseitig unsere Lektüre. Letzte Woche erschien er mit Herbert Spencers „System einer synthetischen Philosophie“, das ich anschauen sollte; ich nahm dankbar an und gab ihm statt

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