Lieber Feind
ein wilder, ungezähmter Mann aus den innersten Tiefen, und — ach Gott! dieses Geschöpf ist einfach unmöglich.
Ich habe stets erneut den Verdacht, daß er in der Vergangenheit einmal einen schrecklichen Schmerz erlitten hat, und daß er immer noch über dieser Erinnerung brütet. Wenn er spricht, hat man das ungemütliche Gefühl, daß er in den hintersten Winkeln seines Geistes an etwas ganz anderes denkt. Aber das mag nur eine romantische Auslegung einer ungewöhnlich schlechten Laune sein. Jedenfalls ist er verwirrend.
Wir haben seit einer Woche auf einen schönen windigen Nachmittag gewartet. Heute ist er da! Meine Kinder genießen den „Drachen-Tag“ nach japanischem Muster. Alle Buben, die groß genug sind, und die meisten Mädchen sind über „Knowltop“ verstreut (das ist die felsige Schafweide, die im Osten an unser Grundstück grenzt). Sie lassen selbstgemachte Drachen fliegen.
Ich habe die große Mühe gehabt, den krustigen alten Herrn, der das Gut besitzt, dazu zu bringen, daß er die Erlaubnis gab. Er mag Waisenkinder nicht, sagt er, und wenn er ihnen erst einmal erlaubt, in sein Grundstück einzudringen, dann wird es auf immer mit ihnen verseucht sein. Hört man ihn reden, könnte man glauben, Waisen seien schädliche Käfer.
Aber nachdem ich zwei Stunden auf ihn eingeredet hatte, hat er uns widerwillig für zwei Stunden freien Lauf in der Schafweide gelassen, vorausgesetzt, daß wir keinen Fuß auf die Kuhweide setzen und pünktlich nach Hause gehen, wenn unsere Zeit um ist. Um die Heiligkeit seiner Kuhweide sicherzustellen, hat Mr. Knowltop seinen Gärtner und Chauffeur und zwei Diener entsandt, um die Grenzen zu bewachen, solange das Fliegen im Gang ist. Die Kinder sind immer noch dabei, und es ist ein herrliches Erlebnis, wie sie über die windige Höhe rennen und sich in ihre Schnüre verwickeln. Wenn sie heimkommen, sollen sie in Form von Ingwerplätzchen und Limonade eine Überraschung bekommen.
Diese bedauerlichen kleinen Kerle mit ihren alten Gesichtern! Es ist eine schwierige Aufgabe, sie jung zu machen, aber ich glaube, ich bringe es hin. Und das Gefühl, etwas Positives für die Welt getan zu haben, tut mir wohl. Wenn ich mich nicht sehr dagegen wehre, werdet Ihr Eure Absicht, mich in eine nützliche Person zu verwandeln, verwirklichen. Die gesellschaftlichen Aufregungen von Worcester kommen mir schon geradezu schal vor, im Vergleich zum fesselnden Interesse an 113 lebendigen, warmen, zappligen kleinen Waisen.
Viel Liebes von Deiner
Sallie.
PS. Ich glaube, die korrekte Zahl meiner Kinder ist heute nachmittag 107.
Liebe Judy!
Da beute Sonntag ist und ein schöner blütenreicher Tag mit einem warmen Wind, saß ich an meinem Fenster und hatte die „Hygiene des Nervensystems“ (Sandys letzter Beitrag für meine geistigen Bedürfnisse) offen in meinem Schoß und den Blick nach draußen gerichtet. „Dem Himmel sei Dank“, dachte ich, „daß diese Anstalt wenigstens an einem so beherrschenden Punkt gebaut wurde, daß wir über die eiserne Mauer, die uns einschließt, hinwegblicken können.“
Ich hatte das Gefühl, sehr eingepfercht und gefangen und selbst wie ein Waisenkind zu sein; deshalb beschloß ich, daß mein eigenes Nervensystem frische Luft, Bewegung und Abenteuer brauche. Gerade vor meinen Augen lag das weiße Band der Straße, die ins Tal hinunterführt und auf den Hügeln auf der anderen Seite wieder auftaucht. Seitdem ich hier bin, hatte ich immer das Verlangen, ihm nachzugehen und herauszubringen, was jenseits des Hügels liegt. Arme Judy! Wahrscheinlich hat dasselbe Verlangen Deine Kindheit beherrscht. Wenn irgendeines meiner kleinen Kücken je am Fenster steht und über das Tal auf die Hügel schaut und fragt: „Was ist dort hinten?“ werde ich nach einem Auto telefonieren.
Aber heute waren meine kleinen Kücken alle fromm mit ihren kleinen Seelen beschäftigt, und ich im Herzen die einzig Wanderlustige. Ich habe mein seidenes Sonntagskleid gegen ein wollenes vertauscht, und den Plan gefaßt, bis auf den Gipfel jener Hügel zu kommen.
Dann bin ich ans Telefon gegangen und habe dreist die Nummer 505 angerufen.
„Guten Nachmittag, Mrs. McGurk“, habe ich mit süßer Stimme gesagt, „ist es gestattet, mit dem Doktor MacRae zu sprechen?“
„Joa, blivt dor“, sagte sie sehr kurz angebunden. „Nachmittag Doktor“, sagte ich zu ihm, „haben Sie vielleicht ein paar sterbende Patienten, die auf dem Gipfel der jenseitigen Hügel liegen?“
„Nee, det
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