Lieber Matz, Dein Papa hat ne Meise
irgendwie. Ich werde freundlich begrüßt. Alle stellen sich mit dem Vornamen vor. Ich bleibe stumm. Die Rollen scheinen klar verteilt zu sein. Es gibt den Gruppenleiter, den Streber, zwei Stumme und den Klassenclown. Das ist diesmal zum Glück nicht meine Rolle. Das erledigt ein Meisenträger, der nicht auf Medikamenten ist und selbstherrlich die Gruppe stört. Das wiederum geht dem Leiter nicht erst seit heute Abend auf den Geist. Alle scheinen sich schon lange Zeit zu kennen. Zu lange vielleicht.
Hinterher gehen wir noch etwas trinken, und der manische Clown textet mich über eine Stunde lang ungehemmt und ungebremst voll. So war das also für die anderen. Das habe ich schon geahnt. Aber jetzt ist es ganz direkt und erbarmungslos. Ich sehe in einen Spiegel. Allein dafür hat es sich gelohnt hinzugehen, obwohl oder gerade weil ich das so nicht erwartet hatte.
Trotzdem ist mir die Gruppe zu eingefahren. Da tummle ich mich lieber im Netz. Im Internet gibt es eine Plattform, auf der sich Bipolare austauschen können. Das ist anonymer, und dadurch kommen viel schneller die wirklich relevanten Themen auf den Tisch. Je mehr ich darin lese, umso deutlicher wird mir, wie viel Glück ich hatte. Viele haben mehrmals versucht, sich das Leben zu nehmen. Den meisten geht es trotz Medikamenten schlecht. Sie haben ihren Job, ihr Geld, ihre Familie und Freunde verloren. Ich habe alles behalten dürfen. Gut, nicht alles. Einige Freunde habe ich wohl für immer verschreckt. Ob das dann wirklich Freunde waren, weiß ich nicht. Die Familie ist noch da, zumindest die große ist durch nichts zu erschüttern. Der habe ich aber auch nicht so doll weh getan. Der Kleinen schon. Deiner Mutter. Und zwar so doll, dass ich mich gar nicht traue, sie um Verzeihung zu bitten.
Ich wünsche mir nichts sehnlicher, als ihr Vertrauen zurückzugewinnen. Zumindest einen Teil davon. Sie sagt, sie wisse nicht, ob das gehe. Momentan bestimmt nicht. Ein Graben liegt zwischen uns wie bei Ronja Räubertochter . Zwischen den Burgen gibt es nur eine Verbindung. Das wirst bei uns immer Du sein, ob wir nun ein Paar sind oder nicht. Aber ich möchte auch versuchen, über den Graben zu springen. Auf die andere Seite. Es wird schwer, denn es ist noch nicht einmal klar, ob sie mich nicht zurückschubst. Oder selbst auf die andere Seite springt. Vor mir weg.
Ich werde Anlauf nehmen.
Versprochen.
jetzt bin ich schon eine ganze Weile wieder in Hamburg, und eines ist mir völlig klar: Ich kann und ich will nicht allein sein. Abstand haben. Das halte ich nicht aus. Auch wenn es vielleicht besser wäre, endlich einmal zu lernen, allein klarzukommen.
Trotzdem kann ich das nicht. Es fühlt sich unwirklich und falsch an. Nicht wie mein Leben. Ich habe das Gefühl, das Leben eines anderen zu leben. Geschieden zu sein ohne Scheidung. Arbeitslos ohne Kündigung. Einsam, ohne allein zu sein. Das habe ich noch nie ausgehalten, und ich frage mich, warum ich das gerade jetzt schaffen soll.
Weil ich die Pillen schlucke?
Weil ich mich von der Jagd abgemeldet habe?
Weil ich mir etwas beweisen muss?
Muss ich nicht.
Ich möchte auch gar kein Solist werden. Schon gar kein professioneller. Mir fehlt mein Rudel.
Ich möchte der Versorger sein. Teilhaben, anstatt teilzunehmen.
Ich langweile mich zu Tode mit mir allein.
Einzelportion.
Kennst Du diese Dosenravioli aus dem Supermarkt? Die gibt es in verschiedenen Größen. Auf der kleinsten Dose steht: Ein Teller. Oben rechts in der Ecke. So fühle ich mich gerade. Wie eine fleischgewordene Einzelportion Dosenravioli. Schmeckt doch nicht.
Ich bin ein Solistenamateur.
Nur für mich einkaufen. Dann lieber gar nichts einkaufen.
Kochen? Geht auch nicht.
Nee.
So. Ich rufe jetzt Ada an und werde sie bitten, mich aufzunehmen.
Als Gast. Meinetwegen.
Vielleicht lässt sie sich darauf ein.
Drück mir die Daumen.
lange nicht geschrieben.
Brauchte ich auch nicht, denn Deine Mutter hat mir glücklicherweise Asyl gewährt. Ein Bleiberecht für den Fremdgewordenen.
Inzwischen haben wir uns auch wieder von der Entfremdung entfremdet. Gott sei Dank. Es gilt wieder unser altes Motto. Platz für Sonntage. Das heißt, der Alltag hat wieder etwas Unbeschwertes. Jeden Tag feiern, als ob es ein Sonntag wäre. Wir können uns auch wieder in die Augen sehen, ohne zu erschrecken. Den anderen sehen, so wie er ist.
Ich glaube nicht, dass das ohne Dich möglich gewesen wäre. Ohne die Liebe zu Dir, so unmittelbar und bedingungslos, dass sie eine
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