Lieber Matz, Dein Papa hat ne Meise
viel zu tun. Selbst wenn ich nicht durchgearbeitet habe, stand doch immer etwas an. Es war aufregend. Aufregender als bei der Post hinter dem Schalter zumindest. Mit der Beschäftigungslosigkeit komme ich nicht zurecht. Das war schon immer so. Auch vor der Meise. Eher ein Grund, warum damals, kurz vor dem Abitur, die Meise das erste Mal zu mir gekommen ist. Da wusste ich auch nicht, wie es hinterher weitergehen soll.
Viele meiner Charaktereigenschaften scheinen die Meise also anzulocken. Die Impulsivität. Die Sehnsucht nach Extremen. Der Drang, Grenzen auszutesten. Nach der Ausnahme zu suchen. Jedes Gefühl noch verstärken zu wollen. Mit Liebe. Mit Kunst. Fliegen zu wollen. Angstfrei.
Die Meise, die ich rief?
Vielleicht ein bisschen.
Ganz los werde ich sie jedenfalls nicht mehr.
Ich bin mir auch nicht sicher, ob ich das wirklich will. Sie wirklich loswerden, meine ich. Immerhin bin ich durch die Meise an Orte und Gefühle gelangt, die andere nur mit Hilfe von Drogen erreichen können.
Aber ich möchte aus diesem Tal heraus.
Noch ist kein Ende in Sicht.
Ich halte weiter Ausschau und werde laut schreien, wenn ich etwas sehe.
Bis dahin alles Liebe,
wenn man nichts zu tun hat, dann werden selbst die einfachsten Aufgaben zu unüberwindbaren Gebirgen. Lebensmittel einkaufen. Sich überlegen, was man essen möchte. Wäsche waschen. Müll wegbringen. Das sind alles Sachen, die man normalerweise nebenbei erledigt. Für mich gibt es kein Nebenbei. Jede Entscheidung wird zur Qual.
Ich stehe eine halbe Stunde vor dem Marmeladenregal. Aprikose? Oder doch Erdbeere? Mit oder ohne Fruchtstücke? Selbst so etwas mag ich nicht mehr entscheiden. Es überfordert mich. Ich habe drei Tage gebraucht, um mir eine Fahrkarte nach Essen zu kaufen und ein Hotelzimmer zu buchen. Morgen geht es los. Ich fühle mich wie vor meiner eigenen Hinrichtung. Da soll ich mich nun für etwas verbeugen, das ich gar nicht geleistet habe. Da lacht Felix Krull laut auf. Ich möchte weinen, verdammt noch mal. Aber es geht nicht. Der Tank ist leer. Der Kanal eingetrocknet.
Ich bin ein wandelnder Lebensverhinderungsorganismus.
Keiner will mich begleiten. Dabei muss ich betreut werden. Dringend.
Ich fahre trotzdem.
Das wird mit Abstand die größte Demütigung meines Lebens. Mit Ansage.
Vielleicht habe ich das verdient.
Nun.
nun war ich bei der Premiere, und es kommt mir schon ganz unwirklich vor, obwohl es erst eine Woche her ist, dass ich von dort wieder abgereist bin.
Um ganz ehrlich zu sein: Es war schrecklich. Ein unangenehmer Traum. Wieder diese Gesichter. Diesmal mit einer Mischung aus Mitleid und Unverständnis. Ich glaube, einige haben immer noch gedacht, ich spiele nur etwas vor. Als-ob-Meise. War mir auch recht. Aber das Wiederholen. Immer wieder die Kurzfassung der großen Meisengeschichte. Ich habe mich irgendwann selbst nicht mehr hören können. »Ja, das ist erblich. Das haben einige in meiner Familie.« Bla, bla, bla.
Wenn ich mir vorstelle, das wäre jetzt in jedem Theater so, in das ich komme.
»Oh, lange nicht gesehen. Und? Wie geht’s dir jetzt so?«
Betroffener Blick.
»Na, ich muss dann auch mal wieder, man sieht sich.«
Nee. Das will ich nicht. Wie die anderen das meinen, wenn sie so komisch gucken, ist mir völlig egal. Ich halte das nicht aus. Basta. Theater ist erst mal gestorben für mich.
Dr. Cane, das ist der Arzt, der mir jetzt regelmäßig das Blut abnimmt, um zu kontrollieren, ob ich genug und nicht zu viel von dem Medikament im Blut habe, Dr. Cane hat mir gesagt, es sei mutig von mir gewesen, nach Essen zu fahren. Cane heißt übrigens Hund auf Italienisch. Mein persönlicher Wachhund. Mami findet es auch mutig und richtig. Alle finden das. Nur ich kann das nicht mutig finden. Ich wäre lieber feige geblieben. Es hat einfach zu sehr weh getan. Ich habe mich geschämt, und es hat meinen Stolz – oder das, was noch davon übrig ist – sehr verletzt. Ich werde es jedenfalls nie vergessen. Und ich habe mir geschworen, dass es so weit nicht mehr kommen wird. Nie wieder. Von jetzt an werde ich doppelt aufpassen.
Dr. Cane passt auch auf. In seinem Treppenhaus riecht es übrigens wie in einer Kirche. Das finde ich ein gutes Zeichen.
Bis gleich.
das war vielleicht ein komisches Gefühl. Gestern, als ich bei Dir war, damit Ada zu einer Geburtstagsfeier gehen konnte. Der eigene Vater als Babysitter. Absurd. Solange Du wach warst, war alles noch ganz selbstverständlich. Nur als Du schlafen gegangen bist,
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