Lieber Matz, Dein Papa hat ne Meise
haben. Nicht mehr zurückzukönnen. Keine andere Möglichkeit mehr zu haben. Versagt zu haben.
Schlösser, das alte Großmaul, hat versagt. Vergeigt. Ist ausgerutscht. Abgerutscht. Weggeglitscht. Hat sich selbst versenkt. Abgeschossen. Einen ganzen Chor von Spöttern habe ich im Kopf. Ein ansteigendes Gelächter. Der hat sich aber auch weit aus dem Fenster gelehnt. Kicher. Der hat doch nie etwas gelernt, geschweige denn studiert. Prust. Hätte man gar nicht zulassen sollen, so etwas. Hahaha. Aber immer so getan wie ein ganz Großer. Schnösel. Das geschieht dem recht. Größenwahnsinnig. Hahaha. Und jetzt? Sooo klein mit Hut! Hahahahahahaha.
Stimmt.
Leider.
Ich muss ihnen recht geben.
Im Moment.
Ich hoffe sehr, dass Du mich dafür nicht verachtest.
Dich nicht für mich schämst.
Ich wage kaum, Dir unter die Augen zu treten.
Sei geduldig mit mir.
Bitte.
es ist Sonntagabend, und ich habe den ganzen Tag mit Euch verbracht.
Schön war das. Aber auch fremd. Ich bin es gar nicht mehr gewohnt. Ich habe gedacht, alles käme von allein zurück. Die Liebe und Zuneigung. Das Familiengefühl. Die Geborgenheit. Ich glaube, Du hattest auch Schwierigkeiten damit. Du warst ganz nervös. Zappelig. Ich konnte darauf gar nicht reagieren. Ich habe mich so zurückhaltend benommen, wie ich es eigentlich nur von meinem Vater her kenne. Auf einmal bin ich selbst so. Bleibt das? Ich hoffe nicht. Kommt das von den Tabletten? Kann sein. Wahrscheinlicher ist aber, dass die Meise sich verändert hat. Wieder eine Eule geworden ist. Ich muss mit ihr dringend zu meinem Meisendoktor. Morgen gleich. Ich muss noch viel mehr über die Meise erfahren. Ich habe mir schon einen Haufen Bücher bestellt.
Aber dass das alles so lange dauert, das tut mir leid.
Dass Du so lange mit einem Als-ob-Papa leben musst.
Omi Frauke hat mir die Nummer von einem anderen Meisenspezialisten gegeben. Von einem, der keine Medikamente verschreibt, sondern die Meise wegquatschen kann. Der versucht mir beizubringen, wie man mit der Meise leben kann.
Mal sehen.
Sei umarmt,
weißt Du, dass ich außer den Briefen an Dich gar nichts mehr habe?
Nichts von Bedeutung, meine ich. Nichts zu tun. Keine Aufgabe. Gut, ich war beim Meisendoktor. Dem neuen. Er sagt, ich müsse geduldig sein. Wenn eine Meise so wild getobt habe, dann sei die Stille danach besonders laut. Der Abgrund, vor dem man stehe, besonders tief. Das leuchtet mir ein. Trotzdem ist es unerträglich. Die Meise hat mir die Farben aus meinem Leben gedreht. Alles grau. Alles gleichgültig. Gleich gültig. Unterschiedslos. Ohne Gewichtung und Abstufungen. Alles bedeutet mir gleich wenig. Das zu schreiben macht mir Angst. Es zu lesen noch mehr.
Ich wiederhole mich.
Keiner kann es mehr hören. Weil keiner weiß, wie er helfen kann. Das weiß ich ja selbst nicht.
Morgen Vormittag habe ich einen Termin bei Dr. Schüssler. Dem kann ich dann noch mal alles erzählen. Vor allem von meiner Angst, nach Essen zur Premiere zu fahren. Ich will nicht. Alptraum.
Du hast mir schon oft von Deiner Halle erzählt. Als Du ungefähr vier Jahre alt warst, hast Du sie Dir erfunden. In Deine Halle gehst Du abends oder wann immer Du willst. Dort bist Du der Chef, und dort ist alles, wie Du es Dir vorstellst. Dort gibt es alles, was Du Dir wünschst, und alle tun das, was Du sagst.
Ist dort noch ein Zimmer frei?
Nur für kurze Zeit?
Du könntest dann gern über mich bestimmen.
Denk mal drüber nach.
es ist früher Abend, und ich sitze in meiner kleinen Wohnung, in der ich mich ebenso als Gast fühle, wie wenn ich bei Euch bin. Überall nur Gast.
Ich war heute bei Dr. Schüssler. Er wohnt in einem großen Flachdachhaus draußen in den Walddörfern, ganz in der Nähe von Omi Frauke. Er ist wirklich nett. Ich habe sofort Vertrauen zu ihm gefasst. Er ist wie ein großväterlicher Freund, der es gut mit einem meint. Das stört mich jetzt auch gar nicht mehr. Ich freue mich über das Gutgemeinte. Im Gegensatz zu den Ärzten im Krankenhaus wollte er meine ganze Lebensgeschichte hören. Angefangen von meiner Geburt bis heute. Alles über Dich und Mami.
Beim Erzählen ist mir klargeworden, wie sehr ich Euch beide vermisse. Wie sehr mir das Familienleben fehlt und wie schlimm die Einsamkeit für mich ist. Obwohl ich objektiv gar nicht allein bin. Aber ich bin immer noch von allen anderen entfernt. Fühle mich abgeschnitten. Vielleicht auch, weil ich nichts zu tun habe. Das ist ganz merkwürdig. In den letzten Jahren hatte ich immer
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