Lieber Matz, Dein Papa hat ne Meise
anstarren. Mit ihren fragenden Gesichtern. Mit jedem Tag ärgerlicher. Die denken, ich mache mich über sie lustig. Dass ich das mit Absicht tue. Nichts sagen. Es ist schlimm für die Leute, wenn man seine Rolle nicht mehr spielt. Nicht mehr mitmacht. Ich bin aus meiner Rolle gerutscht. Obwohl ich der Chef sein soll, verhalte ich mich wie ein Praktikant. Noch dazu wie einer, der nicht richtig versteht und bloß ganz entfernt ahnt, was die anderen meinen, wenn sie reden. Ein fremder Praktikant. Am liebsten möchte ich für alle nur noch Kaffee kochen. So wie am Anfang im Schauspielhaus.
Mache ich tatsächlich manchmal.
Das hilft natürlich auch nicht weiter.
Der Schmerzpunkt ist längst überschritten.
So. Das war’s. Ich habe den Spuk beendet.
Ich stand heute Mittag nach einer entsetzlichen Probe in der Fußgängerzone und habe Deine Mami angerufen und gefragt, ob ich das machen kann. Aufhören mit der Arbeit. Abbrechen. Abreisen.
»Geht das?«
»Ja, das geht.«
»Da gehört auch Mut dazu«, hat sie gesagt.
Ich war das erste Mal seit Wochen froh. Fast ein bisschen glücklich. Weil ich in dem Moment alles ganz klar vor mir sehen und die Zeit in meinem Kopf vorspulen konnte. Dem Intendanten meine Entscheidung mitteilen. Koffer packen. Die traurige Wohnung verlassen. Mit dem Taxi zum Bahnhof fahren, in den Zug steigen. Achtung, die Türen schließen, bitte zurücktreten! Abfahrt.
Ja. Genau das habe ich mir seit Wochen gewünscht.
Obwohl mir bewusst ist, dass das mein Ende im Theater bedeutet. Spätestens jetzt wissen alle, dass ich eine Meise habe und nicht mehr arbeiten kann. Das macht mir wieder Angst, weil ich nicht weiß, womit ich sonst Geld verdienen soll. Aber so geht es nicht mehr weiter. Ich kann nicht mehr Chef sein. Verantwortung tragen. Ansagen machen. In der Öffentlichkeit stehen. Ich brauche mehr Zeit. Zeit zum Nachdenken. Um zu verstehen, was alles passiert ist. Und vor allem, was in Zukunft passieren soll. Zeit, um Abstand zu finden. Zeit, um Luft zu holen. Um zu trauern. Zeit, neuen Mut zu fassen. Zeit, wieder aufzustehen.
Als Erstes bin ich zur Dramaturgin gegangen. Sie hat geweint. Wie um einen verlorenen Angehörigen. Ich wollte mitweinen, aber es hat nicht geklappt. Der Intendant ist wütend geworden und hat mit Sonya geschimpft, weil sie von der Meise gewusst hat. Das ist gemein, aber irgendwie kann ich es auch verstehen. Schließlich muss er nun das Stück zu Ende bringen. Er selbst. Alle wünschen mir gute Besserung und sagen, ich solle in einer Woche zur Premiere kommen. Wenigstens das, sagen sie. Gleichzeitig macht mir die Vorstellung wieder Angst, dass ich im Publikum sitze und mein Stück sehe.
Aber für den Moment scheint die Premiere noch Lichtjahre entfernt zu sein. Jetzt ist Abschiedsinferno. Zuletzt auf der Probe, vor dem gesamten Ensemble. Ungläubige Blicke. Das kann ich ihnen noch nicht einmal zum Vorwurf machen. Man konnte es mir nicht ansehen. Das ist ja das Gemeine. Man sieht die Meise nicht. Selbst Meisenprofis haben manchmal Schwierigkeiten, sie zu erkennen. Wie sollen das Menschen schaffen, die sich hauptberuflich mit sich selbst beschäftigen?
Obwohl sie mir alle ein bisschen leidtun, überwiegt doch die Freude. Ein selten gewordenes Gefühl für mich.
Mit dem Taxi fahre ich zur Wohnung und schmeiße meine Habseligkeiten in die Koffer. Sofort zum Bahnhof.
»Z’Haus geh’n?«, heißt es bei Arthur Schnitzler im Reigen .
Z’Haus geh’n!
diese Bahnfahrt fühlt sich komischerweise genauso an wie damals die von Heidelberg nach Hamburg. Zu Deiner Geburt. Aufgeregtheit, eine unbestimmte Angst vor der Zukunft und ein Stück Neugier. Auch jetzt kann ich mich auf nichts konzentrieren. Wenn ich die Augen schließe, versuche ich an Dich zu denken, aber immer wieder huscht mir ein verzerrtes Theatergesicht dazwischen. Tönt es noch drohend in meinen Ohren. Du musst. Du musst. Du musst, wenn du dies und jenes willst.
Nein. Nein. Nein.
Ich muss gar nichts.
Ich will Dir ein guter Vater sein. Ja. Das muss ich vielleicht sogar. Gerne.
Darum will ich diese Krise bewältigen. Will einen Schnitt machen. Muss einen Schnitt machen, anders geht es nicht. Denn ab jetzt eilt mir ein Ruf voraus, und ich fühle mich außerstande, diesen zu entkräften. Wozu auch. Vielleicht hat mich das alles vor etwas noch viel Schlimmerem bewahrt, wer weiß. Aber sosehr ich mich bemühe, daran zu glauben, überwiegt doch die Ahnung, mich gerade ruiniert zu haben. Einen Weg abgeschnitten zu
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