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Lieber Osama

Lieber Osama

Titel: Lieber Osama Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Chris Cleave
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Gesichter. Fleischklumpen in Arsenal-Trikots, die schlauchartige Gebilde hinter sich herzogen wie Wurstketten – das mussten Gedärme sein. All das fiel von oben ins Bild und sah irgendwie unwirklich aus. Ich schaute hinaus auf die Straße. Dort war es noch immer sonnig und still. Das alte Muttchen zockelte, jetzt fast außer Sichtweite, unverdrossen voran, und die Kids kurvten noch immer auf ihren Rädern herum. 9, sagte ich, 10, 11, 12.
    Dann bebten auf einmal die Fenster. Erst war nur ein dumpfes Grollen zu hören, dann gab es einen Knall, der noch heftiger an den Fenstern rüttelte. Mehrfach rollte das Echo durch die Straße. Überhaupt war das Echo das Längste daran. Die Kids auf ihren Rädern blieben stehen und schauten in den blauen Himmel. Sie kapierten es nicht. Ich kapierte es ja auch nicht. Erst später ging mir auf, dass die Fernsehbilder schneller gewesen waren als der Schall.
    Jasper Black zog ihn aus mir heraus. Auf einmal fühlte ich mich leer. Etwas war in mir gewesen, das jetzt fehlte. Ich dachte an meinen Mann und meinen Jungen in ihren Arsenal-Trikots und schaute wieder auf den Fernseher. Der Rauch war mittlerweile überall und das Fernsehbild so dunkel, als sei es über dem Stadion plötzlich Nacht geworden. Die Menge stürmte aufs Spielfeld, jeder rannte woandershin. Im Hagel von Blut und Körperteilen herrschte die totale Panik, aber gleichzeitig war es so dunkel, dass niemand wusste, wohin er laufen sollte. Sie hatten keine Chance. Wer fiel, wurde niedergetrampelt. Und dann war plötzlich Schluss.
    Sky-TV brachte nur noch das Testbild. Das Sky-Logo vor schwarzem Hintergrund, darunter die Botschaft: WECHSELN SIE JETZT ZU SKY-DIGITAL. Ja, dachte ich. Warum nicht?
    Beim Versuch, seine Hose anzuziehen, fiel Jasper Black erst mal hin. Er stand wieder auf und sagte: O Gott, das ist ja entsetzlich. Dann fiel er wieder hin, so als gehorchten ihm seine Arme und Beine nicht mehr. Ich stand auch auf, ging zum Fernseher und schaltete zu BBC. Mir war kalt, ich war ja immer noch im Evaskostüm.
    Auf BBC lief Pferderennen. Es war schön, die Pferde über das weiche grüne Gras galoppieren zu sehen. Auf der Rennbahn von Lingfield, Chepstow oder wo auch immer war die Welt noch in Ordnung. Kein Blut, kein Feuer, nur ein großes Oval mit einem kilometerlangen weißen Zaun. Es war wie Fischstäbchen – ein großer Trost, so wie es dort für alle Ewigkeit im Kreis ging. Aber dann verschwanden die Pferde plötzlich, und Sophie Raworth von den Sechs-Uhr-Nachrichten setzte sich ins Studio. Sie war sehr blass, und ohne ihr schönes oranges Make-up sah sie aus wie der Geist von Sophie Raworth und machte mich fickrig. Zunächst schaute sie in die falsche Kamera und fummelte an dem Ding in ihrem Ohr. Wie soeben gemeldet wird, sagte sie.
    - Los, fahren wir.
    - Fahren? Wohin?, fragte Jasper Black. Ich muss sofort in die Redaktion. Das wird eine Riesensache, da wird jeder gebraucht.
    - Scheiß auf den Sunday Telegraph. Mein Mann und mein Junge sind bei dem Spiel.
    - Ach du lieber Himmel, sagte Jasper Black. Stimmt.
    - Du musst mich hinfahren.
    - Tut mir leid, aber das geht nicht, sagte Jasper Black. Bis wir da sind, sind sämtliche Zufahrtstraßen gesperrt.
    - Hör mal, hast du’s an den Ohren? Mein Mann und mein Junge sind bei dem Spiel. Ich muss sie nach Hause holen.
    Ich weinte mittlerweile und blickte nicht mehr durch. Ich zitterte und dachte nur: Bitte, lieber Gott, mach, dass ihnen nichts passiert ist. Jasper Black sah mich an, wie ich so dastand, splitternackt und in Tränen aufgelöst. Dann schaute er auf Sophie Raworth im Fernsehen, schließlich auf seine Uhr.
    - Halb vier, sagte er. Redaktionsschluss ist erst in sechs Stunden.
    Ich dachte nur: O Gott, bitte mach, dass sie nicht verletzt sind. Oder wenn, dann nur ein klitzekleines bisschen. Bitte, Gott, ein Kratzer ist okay. Auch ein gebrochener Arm. Aber nicht bei dem Kleinen. Ich will nicht, dass ihm was zustößt. Wenn schon ein gebrochener Arm, dann bitte bei meinem Mann, das ist ein kräftiger Bursche, der steckt so was weg. Der hätte sogar noch seinen Spaß daran, wenn alle seine Kumpels auf dem Gips unterschreiben. Ich sah Jasper Black an.
    - Bitte. Bitte. Ich muss zum Stadion.
    - Nein, versteh doch, das ist jetzt unmöglich. Lass die Feuerwehr das machen. Das Letzte, was die brauchen, sind Leute, die überall im Weg stehen.
    - Nein, du verstehst nicht. Mein Mann will kündigen, gleich am Montag. Dann können wir endlich in Frieden leben. Bitte hilf

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