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Lieber Osama

Lieber Osama

Titel: Lieber Osama Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Chris Cleave
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ohne Ende. Ich fragte mich noch, warum sie eigentlich so schrie, wo doch alle anderen so still waren. Schreiend lief sie an uns vorbei, und ich schaute ihr hinterher. Erst da sah ich, was der Grund war. Hinten trug sie nämlich gar nichts mehr. Arsenal-Shirt und Kappa-Hose, alles weggebrannt. Von oben bis unten nur verkohlte Haut. Man sah noch, wo ihr die Unterhose ins Fleisch geschmolzen war. Schreiend verschwand sie im dichten Qualm, und ich fragte mich, warum ihr keiner half. Dann erinnerte ich mich an meinen Mann und den Jungen und vergaß sie sofort wieder.
    Den Nächsten, der an mir vorbeikam, schnappte ich mir. Es war ein kleiner Mann mit einem dünnen Schnurrbart, vielleicht 50 Jahre alt. Ich hielt ihn an der Schulter fest. Er blieb stehen und sah mich an, wie mein Sohn im Alter von neun Monaten Fremde angesehen hatte: total unsicher.
    -Haben Sie meinen Mann und meinen Jungen gesehen? Bitte, haben Sie sie gesehen? Denken Sie nach. Mein Mann ist 1,86, kräftig und trägt ein Arsenal-Trikot. Mein Sohn ist etwa so groß, auch er ziemlich kräftig für sein Alter. Er hat rotblonde Haare und trägt wahrscheinlich einen Stoffhasen mit sich. Der Stoffhase ist etwa so groß, hat violette Pfoten und grüne Ohren und heißt Mr. Rabbit.
    Der Mann starrte mich nur an.
    - Mädchen, du läufst in die falsche Richtung, sagte er.
    - Bitte. Bitte denken Sie nach.
    Der Mann riss sich los und ging weiter. Ich schrie:
    - HAT JEMAND EINEN KLEINEN JUNGEN GESEHEN? EIN KLEINER JUNGE, 4 JAHRE UND 3 MONATE ALT? WOMÖGLICH MIT EINEM STOFFHASEN?
    Niemand blieb stehen. Alles drängte an mir vorbei. Die Menschen rochen nach Qualm, Schweiß und verbranntem Fleisch. Ich weinte wieder. Jasper Black war neben mir.
    - Komm, gehen wir, sagte er. Wir müssen hier weg. Was willst du denn hier?
    Er versuchte, mich in die andere Richtung zu ziehen, aber ich riss mich los.
    - Nein, ich muss meine Männer finden. Komm mit oder lass es bleiben, mir ist das egal.
    Ich lief weiter die Straße hoch. Es wurde dunkler und dunkler. Mein Augen taten dermaßen weh, ich musste sie zumachen, sodass ich immer wieder mit Leuten zusammenstieß. Es war, als kämpfe man sich einen entsetzlichen Fluss hinauf. Aber ich wusste, solange ich mit Leuten zusammenstieß, ging ich in die richtige Richtung. Ich musste dem Stadion schon sehr nahe sein, denn sobald ich die Augen aufmachte, sah ich Feuerwehrmänner und Polizisten unter den Leuten. Die Feuerwehrmänner hatten diese Masken auf mit Schläuchen, die an große Pressluftflaschen auf ihrem Rücken angeschlossen waren. Sie liefen alle in dieselbe Richtung wie ich. An einem von ihnen hielt ich mich fest und ließ mich von ihm mitziehen. Er bahnte mir einen Weg durch die Leute.
    Wir kamen zu einem Eingang, eine riesige Angelegenheit ganz aus Stahl und Glas, die sich kühn in den pechschwarzen Himmel erhob. Überall war Polizei und Presse. Pressefotografen drängten hinein, die Polizei versuchte sie davon abzuhalten. Großes Geschiebe vor der Absperrung, einige sprangen sogar in die Höhe, um dann mit ihren Kameras in den dichten Qualm zu blitzen. Aber die Bullen blieben eisern, und es kam zu Gerangel und Handgreiflichkeiten. Ich aber kroch unter ihnen allen hindurch, wurde getreten und gestoßen, und irgendwann trampelte etwas auf mich drauf, bei dem ich gleich wusste, das wird wehtun. Ich spürte, wie etwas brach, aber ich krabbelte einfach weiter. Mittlerweile waren meine Ellbogen aufgeschürft, und ich bekam keine Luft mehr. Alles tat weh, aber das kümmerte mich nicht. Ich musste bloß meinen Jungen finden.
    Auf einmal wurde der Boden unter mir ganz glitschig. Ich war im Stadion. Das merkte man daran, dass man die Alarmanlagen von den Autos nicht mehr hörte, nur noch Rufe, Polizeifunk und Schreie. Ich fühlte mich ganz flau. Ich wusste, in mir drin war irgendwas kaputt, denn als ich unter mein T-Shirt schaute, war mein Bauch ganz geschwollen. Ich wollte aufstehen, fiel aber gleich wieder hin. Der Boden war nass und rutschig und ich völlig verdreckt. Ich dachte, vielleicht, wenn ich weiter nach oben krieche, ist es nicht mehr so glitschig. Ich kam zu einer Treppe und kroch hoch, aber dieses nasse, klebrige Zeug lief von oben die Stufen runter, und allein von dem Geruch musste ich kotzen. Ich kotzte mir die Seele aus dem Leib. Ich kroch einen Wasserfall aus Blut hinauf, nur um meinen Sohn zu finden, und jetzt schwamm auch meine Kotze darin.
    Ich weiß nicht, wie lange ich mich so weiterschleppte, durch all den Rauch,

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