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Lieber Osama

Lieber Osama

Titel: Lieber Osama Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Chris Cleave
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riesengroße Augen gemacht – und wäre vielleicht mal 8 Sekunden lang still gewesen.
    Auch Terence und ich waren erst mal ganz still. Wir hielten uns an der Hand, und alles, was man hörte, war der Regen auf dem Glas und das elektrische Summen der Zauberkräfte, die das Ding in Bewegung hielten. Die Leute auf der Westminster Bridge wurden immer kleiner.
    - Tessa hat mich gebeten auszuziehen, sagte Terence. Ich wohne in einem Travelodge.
    - Das tut mir leid.
    - Muss es nicht. Travelodges sind gar nicht so schlecht.
    - Du weißt, wie ich das gemeint habe.
    - Ja, schon, sagte er.
    Er seufzte, und die Glasscheibe vor uns beschlug, sodass ein Stück des Embankment dahinter unsichtbar wurde.
    - Habt ihr euch für dauernd getrennt?
    - Ich weiß nicht, sagte er. Das werden wir sehen.
    - Bin ich der Grund? Terence schüttelte den Kopf.
    - Sie weiß nichts von dir, sagte er. Es ist mein Beruf, den sie nicht mehr aushält. Sie meint, ich bin mit der Polizei verheiratet.
    - Was ja nicht ganz verkehrt ist.
    - Meinetwegen, sagte Terence. Aber so bin ich eben. Ich ohne meinen Job wäre wie der englische Fußball ohne Elfmeterpech. Du kriegst das eine nicht ohne das andere.
    Ich drückte seine Hand, er drückte zurück, und ich versuchte nur darüber nachzudenken und über sonst nichts.
    Das Riesenrad drehte sich weiter. Nach einer Weile konnte man die Dächer auf beiden Seiten des Flusses sehen. Ich sah den schicken Norden von London mit seinem hellen Stein und dem Geld. Und ich sah den Süden mit seinen schmutzig braunen Wohnsilos. Von dort oben aus konnte ich vergleichen, wie viele Kabel über der Nordseite hingen und wie viele im Süden. Irgendwie bekam ich den Eindruck, die Leute, die den Schutzschild der Hoffnung errichtet hatten, waren im Fall von Brixton, Camberwell und Lewisham nicht ganz so hoffnungsvoll gewesen.
    Ich hielt mich weiter an Terence’ Hand fest und blickte nach Osten, suchte die Orte, die mir vertraut waren, meine alte Schule, das Nelson’s Head, die Wellington-Siedlung und all die Straßen, auf denen ich meinen Mann geküsst hatte und mit meinem Sohn spazieren gegangen war. Und auch die Straße, in der ich sie beide verraten hatte. Ich schaute angestrengt durch den Nieselregen, so als könnte ich aus dieser Höhe mehr Sinn in meinem bisherigen Leben erkennen. Aber sosehr ich auch guckte, nach einer Weile gab ich es auf, denn die Wahrheit war, hinter all den berühmten Wahrzeichen von London konnte man das East End gar nicht sehen.
    Unsere Kugel näherte sich den Wolken, die Kabinen vor uns waren schon darin verschwunden. Terence starrte nur einfach in die Ferne, mit traurigen Augen, übervoll von dieser endlosen Stadt.
    - Es sind einfach zu viele, sagte er. So viele Menschen. Man kann doch keinen Zaun um sie ziehen.
    - Ja, aber euer Möglichstes tut ihr schon.
    - Stimmt, sagte Terence. Die Zugbrücke ist oben. Das Problem ist nur, die Bastarde sind schon drin. Sie könnten uns auf hunderterlei Art abschlachten. Könnten diese Bürotürme umstürzen lassen wie Dominosteine, bis sich die Themse rot färbt.
    Wir schauten hinunter auf den braunen Fluss, der gerade hinter den ersten Wolkenfetzen verschwamm.
    - Tu dein Bestes. Mehr geht eben nicht.
    - Wenn ich nur nicht so verdammt müde wäre, sagte Terence. Weißt du, unser Obrigkeitsstaat sticht blindlings in irgendwelche Wespennester, und ich soll dann dafür sorgen, dass die aufgescheuchten Wespen uns nicht stechen. Das kann nicht funktionieren. Vielleicht sollten wir zur Abwechslung mal alles unterlassen, was diese Leute dazu animiert, uns umzubringen.
    Dann wurde es grau. London verschwand unter uns wie ein böser Traum. Unsere Kugel schwebte durch die Wolken.
    - Terence?
    - Ja?
    - Können wir das alles nicht mal eine Weile vergessen? Terence drehte sich um und sah so elend und unglücklich aus, dass ich ihn einfach nur in den Arm nehmen wollte, was ich auch tat. Er hielt mich ganz sanft an den Schultern, aber dann wanderten seine Hände nach unten, und ich machte mich lang, um ihn zu küssen. Plötzlich waren Tränen auf meinem Gesicht, aber es waren seine Tränen, nicht meine. Ich küsste ihn weiter, während ich ihm den Gürtel aufmachte und er mir den Rock hochschob. Ganz still und einsam war es dort oben in den Wolken, und das Licht war so traurig und grau, und es kam auch von allen Seiten, es gab überhaupt keinen Schatten. Dafür aber ein lange Holzbank in unserer Kugel, auf die legte ich mich und bebte und seufzte, als er in mir war, und schloss

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