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Lieber Osama

Lieber Osama

Titel: Lieber Osama Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Chris Cleave
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allein auf meinem Sofa zu hocken.
    Es gab Cannelloni zum Abendessen, aber keiner rührte was davon an. Ich war immer noch pappsatt von den rosa Brötchen, Jasper war high, und Petra machte gerade ihre Atkins-Diät.
    Wir saßen dann am Tisch, tranken Rose und sahen zu, wie die Cannelloni kalt wurden. Dafür war der Rose lauwarm, denn wegen eines Stromausfalls funktionierte der Kühlschrank nicht. Petra machte ein paar Kerzen an, obwohl das nicht nötig gewesen wäre. Draußen auf der Straße fackelte eine bengalische Straßengang mehrere Autos ab, und der grelle Feuerschein drang bis ins Zimmer. Keine Polizei, keine Feuerwehr ließ sich blicken. Sie waren wohl gerade mit was anderem beschäftigt.
    Nach dem 5. Glas hielt ich es nicht mehr aus. Ich erzählte ihnen, was ich von Terence erfahren hatte.
    - Ich kann das kaum glauben, sagte Petra. Das kommt mir doch sehr unwahrscheinlich vor, dass sie alles gewusst und es trotzdem nicht verhindert haben.
    - Ach komm, Petra, sagte Jasper. Sei nicht so naiv. Sie wollten ihre Quelle schützen, deshalb mussten ein paar Fußballfans dran glauben. Was soll daran unwahrscheinlich sein?
    - Aber 1000 Menschenleben, sagte Petra. Die Zahl macht es so unwahrscheinlich.
    Jasper lachte.
    - 1000 Menschenleben sind Peanuts, sagte er.
    - Jasper, bitte, sagte Petra.
    - In Coventry sind seinerzeit noch viel mehr umgekommen. November 1940. Die Deutschen griffen mit Brandbomben an, und Churchill wusste davon. Projekt Ultra. Dennoch hat man nichts unternommen. Wir konnten den Deutschen doch nicht zeigen, dass wir ihren Code geknackt hatten.
    - So ein Schwachsinn, sagte Petra. Diese Theorie ist längst widerlegt. Es ist ein Märchen.
    - Und trotzdem alles andere als unwahrscheinlich, sagte Jasper. Oder glaubst du nicht auch, sie würden alles tun, um ihre unersetzbaren Börsenjungs zu schützen.
    - Du bist high, sagte Petra.
    - Ich bin vielleicht high, sagte Jasper. Aber ich habe Recht. WAMM ging draußen das nächste Auto in Flammen auf, und Jasper und Petra blitzten sich im orangeroten Schein, der davon ausging, böse an.
    - Hör zu, sagte Jasper. Was sie vor allem verhindern wollten, war ein Anschlag in der City. Denn wenn 1000 Krawattenträger sterben, heißt es: Goodbye, internationaler Finanzplatz. Tausend tote Prolls mit Arsenal-Shirts wirken sich nur auf den Bierumsatz aus.
    Ich war inzwischen ziemlich betrunken von dem verdammten Rose und hätte mich besser rausgehalten, aber so bin ich eben.
    - Jasper hat Recht. Die Regierung scheißt auf Leute wie meinen Mann und meinen Sohn.
    Petra schüttelte den Kopf.
    - Das ist paranoid, sagte sie.
    - Überhaupt nicht paranoid. Ich gehöre zur Unterschicht, das ist der Unterschied.
    - Bitte, sagte Petra. Es geht nicht um den Krieg der Klassen, sondern um den Krieg gegen den Terror.
    - Genau, und er läuft genau so ab wie jeder andere Krieg auch. Hast du dich schon mal gefragt, warum jemand aus dem East End wie ich kaum Familie hat? Es gibt Gründe dafür, Petra, und sie heißen: 1. Weltkrieg, 2. Weltkrieg, Falkland-Krieg, Golfkrieg 1 und Golfkrieg 2 und Krieg gegen die Drogen. Egal, was du nimmst, jeder Krieg hat ganze Stücke aus meiner Familie gerissen. Das ist Krieg, Petra. Und bei diesem hier ist es nicht anders. Die Leute, die sterben, sind immer Leute wie ich. Und die, die überleben, tut mir leid, Petra, sind immer Leute wie du. Du hast dich schon so dran gewöhnt, dass du es nicht mal mehr merkst, weil es nämlich selbstverständlich ist.
    Petra starrte mich an.
    - Weißt du was?, sagte sie. Leck mich.
    - Petra, sagte Jasper. Bitte.
    - Nein, Jasper, sagte sie. Und du auch. Ihr könnt mich beide am Arsch lecken. Ihr weigert euch, nach vorn zu gucken. Taucht lieber ab in Koks und Verschwörungstheorien wie beleidigte Kinder. Wisst ihr, was ich die ganze Woche lang getan habe? Ich habe nach vorn geschaut. Jeder schaut nach vorn. London tut es längst, London schaut nach vorn. Und Paris lässt sich nicht einschüchtern. Und in New York hat man soeben die Farben wiederentdeckt. Lebendige Farben, mutige Farben. Dank New York gibt es so etwas wie eine neue Frühjahrskollektion, und meine Wenigkeit hat dafür gesorgt, dass ihr in der nächsten Ausgabe davon lesen könnt. Helmut Lang blickt nach vorn. John Galliano blickt nach vorn. Die gesamte westliche Welt ist in der Lage, nach vorn zu blicken, mit Ausnahme von euch. Was habt ihr beiden hier eigentlich die ganze Zeit getrieben, als ich mir in New York den Arsch abgearbeitet habe? Nur rumgeheult

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