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Lieber Osama

Lieber Osama

Titel: Lieber Osama Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Chris Cleave
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die verfolgten ihn. Ich holte Mr. Rabbit aus meiner Tasche und steckte ihn zu Jasper ins Bett. Mr. Rabbit war schon immer gut gegen Albträume. Ich streichelte ihm weiter übers Haar. Wenn man mal gelernt hat, sich um einen Jungen zu kümmern, bleibt einem das ein Leben lang, wie Fahrradfahren. Oder eine Kalaschnikoff zu reinigen, falls es da bei dir eher klingelt, Osama. Ich meine, wer weiß schon, was du als Kind in deiner Freizeit gemacht hast?
    Als Jasper ruhig war, ging ich zurück an Petras Schminktisch. Ich legte ihre Ohrringe wieder in die Schublade. Mit Make-up-Entferner und einem Wattebausch reinigte ich mein Gesicht, zog ihre Sachen aus, hängte sie in den Schrank, auch BH und Höschen, die in die Kommode kamen, und stand nackt und zitternd vor mir selbst. Die Uhr sagte 8:45. Es wurde Zeit, wieder in mein eigenes Leben zu schlüpfen.

 
    A N DIESEM M ORGEN kam ich zu spät zur Arbeit und war nicht die Einzige. Die Busse verkehrten nicht nach Fahrplan, und meiner kam überhaupt nicht. Wieder mal ein Bombenalarm, der Hunderte von uns im kalten grauen Regen von Bethnal Green stehen ließ. Bombenalarm war mittlerweile an der Tagesordnung. Man konnte nicht mal eine Kippe irgendwo liegen lassen, ohne dass jemand kam und sie kontrolliert zur Detonation brachte.
    Alle verspäteten sich und jammerten über Handy irgendwelchen Leuten die Ohren voll. Natürlich so laut, dass wir anderen auch was davon hatten. Wenn einer aufhörte, fing der Nächste an. So jammern wir heute in England, Osama. Gott behüte, dass wir etwa die anderen Fahrgäste in der Schlange persönlich behelligen. So was würden wir nie tun. Wir sind eben nicht wie ihr heißblütigen Arabertypen, würde Terence sagen. Weißt du, es liegt am Klima. Es ist der Regen auf Bethnal Green, der Britannien groß macht. Eine halbe Stunde stand ich in diesem Regen, dann gab ich auf, ging zur U-Bahn, aber auch die U-Bahn war geschlossen, also ein typischer Londoner Scheißmorgen.
    Irgendwann blieb mir nichts anderes übrig, als die 5 Meilen durch den Regen zu marschieren, zusammen mit 3 Millionen anderen, deren Bus nicht gekommen war. Schön ist das nicht, sage ich dir. Eher ein Kampf, denn jeder Schirmbesitzer versucht, dir irgendwie ein Auge auszustechen. Regen macht uns giftig. Die Leute schoben und schubsten, maulten und meckerten, latschten durch Pfützen, und auf den Straßen ging erst recht nichts mehr. Zu allem Unglück war es auch noch Montag.
    Unten an der Themse, kurz vor dem Embankment, sah ich endlich jemand ausrasten. Einen Mann, der kurz vor einem Bus noch die Straße überqueren wollte. Der Fahrer hupte. Der Mann sprang erschrocken zurück, ließ dabei seinen Aktenkoffer fallen. Der Aktenkoffer ging auf, und auf einmal lagen alle seine Sachen in einer Pfütze, Notebook, Papiere und all der kleine Elektronikspielkram. Der Mann krauchte auf dem Boden herum, wollte sein Zeug wieder einsammeln, aber den Leuten war das völlig gleichgültig, sie liefen einfach weiter, traten auf seine Unterlagen, den iPod, seine Finger, egal. SCHEISSE, VERDAMMTE, schrie der Mann, KÖNNT IHR BESCHISSENEN ROBOTER NICHT WENIGSTENS EIN BISSCHEN RÜCKSICHT NEHMEN, DAS IST SCHLIESSLICH EIN BESCHISSENES ZIVILISIERTES LAND.
    Ein paar aus der Menge sahen ihn an, als sei Zivilisation das eine, ein Montagmorgen aber ganz was anderes. ACH, LECKT MICH DOCH ALLE AM ARSCH!, rief der Mann. Er stand auf, hielt den einen Gegenstand hoch, den er hatte retten können, und das war sein Kugelschreiber. Dessen Ende war aufgeplatzt, schwarze Tinte lief dem Mann über die Hand und sickerte mit dem Regen in seine weiße Manschette. Er reckte das Gesicht zum Himmel und schrie: ACH, SCHEISS AUF DAS ALLES. SCHEISS AUF DEN SCHEISSBOMBENALARM. SCHEISS AUF DIE TERRORISTEN, SCHEISS AUF DIE POLIZEI UND SCHEISS ERST RECHT AUF DIESES BESCHISSENE PENDLERLEBEN.
    Die Leute im Umkreis fingen an zu lachen und klatschten Beifall. In elender Zeit war ein Wunder geschehen wie damals im Ersten Weltkrieg, als Deutsche und Briten im Niemandsland Fußball gespielt hatten. Der Mann war noch immer stinksauer, aber plötzlich lächelte er, verbeugte sich sogar vor seinen Zuhörern und schwenkte den kaputten Kugelschreiber wie einen Dirigentenstock. Jetzt denkst du sicher, auch ich hätte mich gefreut, Osama, aber das stimmt nicht. Im Gegenteil, ich hatte ein komisches Gefühl dabei. In einer Minute waren die Leute wie Roboter, in der nächsten reagierten sie wie Menschen, und wieder eine später waren sie vielleicht

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