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Lieber Osama

Lieber Osama

Titel: Lieber Osama Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Chris Cleave
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die Augen und atmete seinen Geruch ein.
    Mit geschlossenen Augen konnte ich durch Londons Wahrzeichen hindurchsehen bis hinein ins East End. Dort sah ich meinen Jungen mit seinen gelben Gummistiefeln im tiefen Gras spielen, aber so was von genau.
    - O Gott, Terence, o Gott, komm, fangen wir noch mal von vorn an. Wir beide, wir könnten zusammen ein neues Leben beginnen.
    Danach fühlte ich mich traurig und ein bisschen wund, und wir saßen nebeneinander auf der Bank und rauchten Terence’ rote Marlboros. Wir sahen uns nicht an, sondern nur hinaus in das große graue Nichts hinter der Scheibe.
    -Näher bin ich dem Himmel nie gewesen, sagte Terence Butcher.
    - Das ist jetzt ein Witz, oder? Bist du etwa noch nie geflogen?
    - Ich meine nicht von der Höhe her, sagte er. Sondern vom Gefühl.
    - Oh.
    Ich dachte an den Himmel.
    - Aber gehören dazu nicht auch Engel und leckeres Essen und die lieben Verstorbenen aus der Familie?
    - So stellt sich Hollywood den Himmel vor.
    - Oh.
    - Das hier ist der englische Himmel. Der kommt etwas billiger. Das hier ist Himmel light.
    Ich lächelte, streckte mich nach oben und küsste ihn, und als ich dann hinaussah, sanken wir gerade wieder aus den Wolken heraus. Man konnte das Parlament sehen, aber es war so klein wie eine Streichholzschachtel. Hätte man es hochgehoben, hätte man sich an den spitzen Türmchen die Finger gepiekst.
    Terence zog mein Kinn zu sich, bis ich ihm direkt ins Gesicht sah.
    - Du, ich muss dir was sagen. Über den 1. Mai.
    - Ach, Terence, nicht schon wieder. Wir sind gerade im Himmel, nur wir 2. Nur du und ich. Mach nicht alles kaputt.
    Ich drückte meine Zigge unter der Bank aus. Die Erde kam immer näher. Man sah bereits die Straßenlaternen auf der South Bank durch den Regen auf uns zukommen wie träge, kalte Raketen.
    - Aber ich muss es dir sagen, sagte Terence. Wenn wir zusammen sein wollen, kann ich es nicht für mich behalten.
    Ich steckte mir eine neue Zigarette an. Terence legte mir die Hand auf die Schulter, aber ich schüttelte sie ab.
    - Wovon redest du?
    - Von bestimmten Entscheidungen, sagte er. In diesem Be ruf stehst du manchmal vor grässlichen Entscheidungen. Aber wenn du überhaupt weitermachen willst, kommst du nicht um sie herum. Es ist deine Pflicht.
    - Und was hat das alles mit dem 1. Mai zu tun?
    - Auch dein Mann wusste, was Pflicht war.
    - Mein Junge war 4 Jahre und 3 Monate alt. Er wusste noch nichts von Pflicht und so. Worauf willst du eigentlich raus?
    Terence nahm mir die Zigarette aus der Hand und zog daran. Er inhalierte tief und sah sie danach an, als hoffte er, sie würde ihn umbringen, bevor er antworten musste. Sein Adamsapfel bewegte sich auf und nieder.
    - Wir wussten von dem Anschlag am 1. Mai, sagte er. 2 Stunden bevor er stattfand.
    - Quatsch. Und wenn. Guck, wir sind fast unten. Sag mal, ist mein Lippenstift sehr verschmiert?
    Ich stand auf und strich mir den Rock glatt, aber Terence zog mich wieder auf die Bank.
    - Setz dich, sagte er. Hast du verstanden, was ich gesagt habe? Wir haben alles gewusst.
    - Ihr habt es gewusst? Aber woher?
    - Von einem Maulwurf, sagte er. Von einem verdeckten Ermittler in dieser Terrorzelle. Er hat uns verständigt, als die Attentäter auf dem Weg ins Stadion waren.
    - Blödsinn. Zwei Stunden vorher hättet ihr es noch verhindern können.
    - Stimmt, sagte Terence Butcher. Aber es wurde dagegen entschieden.
    Ich starrte ihn an.
    - Ich weiß, das ist jetzt hart für dich, aber wenn wir die Terroristen damals gestoppt hätten, hätten sie gewusst, dass irgend was im Busch ist. Sie hätten alles geändert. Hätten die Leute ausgetauscht, ihre konspirativen Wohnungen gewechselt, al les. Wir hätten unseren kleinen Vorsprung verloren, und das durfte nicht passieren. Es steht zu viel auf dem Spiel. Wir wissen zum Beispiel, dass die Terrorzelle 1. Mai noch einen weiteren Anschlag plant, hundertmal schlimmer als der auf das Arsenal-Stadion.
    - Ich kann das alles nicht glauben, Terence. Ihr wusstet also davon? Du auch?
    - Ja, sagte er.
    - Und trotzdem habt ihr nichts unternommen?
    - Die Entscheidung kam nicht von mir, sagte er. Sie wurde auf höchster Ebene getroffen.
    - Scheiß auf deine höchste Ebene. Du hast es gewusst.
    - Ja, sagte er. Natürlich hätte ich mich der Entscheidung widersetzen und das Ganze verhindern können. Ich habe es nicht getan, weil ich die Entscheidung für richtig hielt und auch jetzt noch für richtig halte. Wir konnten nur nicht ahnen, dass es so viele Opfer geben

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