Lieber Osama
Gott weiß was. Seit dem 1. Mai wechselte ihre Stimmung schneller als eine Verkehrsampel.
Als ich schließlich auf der Arbeit ankam, hing ein tiefer grauer, trübsinniger Himmel über Scotland Yard. Nicht mal die Ballons vom Schutzschild der Hoffnung waren zu sehen, nur die Kabel, die irgendwo in den Wolken verschwanden, als wäre der Himmel dran festgemacht.
Oben im Büro begann ein langer grauer Morgen, und eine der Neonröhren flackerte und brummte wie ein elektrischer Stuhl. Ich bekam Kopfschmerzen davon, aber der Mensch erträgt manches, wenn er dabei neue rote Unterwäsche trägt. Außerdem deuteten Terence’ Blicke an, dass er es bis 1 Uhr kaum noch aushalten würde. Ich übrigens auch nicht.
Mittags sagte Terence, dass wir uns nicht in unserem gewohnten Hotel treffen sollten, er wolle lieber spazieren gehen. Ich sagte okay, obwohl Spaziergang erst mal geprahlt war. Nicht nur dass es nieselte, ich musste auch immer ein paar Meter hinter ihm gehen, falls uns jemand von Scotland Yard sah. Auf der Westminster Bridge hätte ich ihn fast aus den Augen verloren, so viele Leute liefen da, weil die U-Bahn wegen des Bombenalarms noch nicht wieder ging. Sie brauchen immer stundenlang, bis die Züge wieder nach Fahrplan fahren und auch die Musiker mit ihren Schrammelgitarren wieder an ihrem Platz am Fuß der Rolltreppe postiert sind, wo sie ENGLAND’S HEART IS BLEEDING singen. Die Tube ist wie ein Ameisenhaufen. Ich meine, wenn du da drauftrittst, rennen die Ameisen auch völlig aufgekratzt rum wie mein Junge nach 3 Gläsern Cola, aber dann kriegen sie sich wieder ein, bringen ihren Haufen auf Vordermann, buddeln die Tunnel frei, und am Ende ist alles so schön wie vorher oder zumindest fast. Bloß in 5 Minuten bekommen sie das eben nicht hin, das ist alles.
Egal, am anderen Ende der Westminster Bridge wurde Terence langsamer und ging nach links die Treppe runter zur South Bank, ich immer brav die paar Meter hinter ihm her. Unten angekommen, blieb er stehen und drehte sich um. Jetzt dachte er wohl, wir wären sicher vor Entdeckung. Ich ging zu ihm und beugte mich über die Mauer, von wo man auf die Themse runtergucken konnte. Es war Ebbe, man sah das schlammige Ufer. Schmutzige Möwen paddelten um halb im Schlick versunkene Einkaufswagen und alte Tampons herum.
- Unsere glanzvolle Hauptstadt, sagte Terence. Auch kein toller Anblick.
- Naja, dann gucke ich wohl lieber dich an.
Ich schaute ihn an und lächelte. Hinter ihm sah man das London Eye. Das Riesenrad drehte seine großen Glaskugeln, bis sie auf etwa drei Viertel der Höhe in den Wolken verschwanden und auf der anderen Seite entsprechend wieder zum Vorschein kamen. Überall an dem weißen Gestänge waren lange Roststreifen, das hätte auch mal jemand streichen können. Jetzt, wo die Touristen ausblieben, fehlte wahrscheinlich das Geld dafür. Das London Eye war so leer wie der Fluss.
Terence folgte meinem Blick.
- Schon mal da oben gewesen?, fragte er.
- Nein.
- Sollen wir mal?
- Nee. Wenn ich unbedingt einen Drehwurm kriegen will, kann ich auch einen Doppeldeckerbus nehmen, das ist billiger.
- Ach komm, sagte Terence. Wo bleibt deine Abenteuerlust?
- In einem kleinen Karton voller Asche, Terence, wo sie meine Abenteuerlust anhand der Zahndaten identifizieren mussten.
Terence seufzte und schüttelte den Kopf.
- Dann eben nur, um endlich aus diesem Regen rauszukommen, sagte er. Bitte, ich muss nämlich mit dir reden.
Ich sagte okay, und Terence nahm meine Hand. Wir gingen am Aquarium und am Dali-Museum vorbei und kauften schließlich die Karten, es gab nicht mal eine Warteschlange. Wir stiegen direkt in eine der Glasgondeln, hatten sie ganz für uns. Erst wollte sich ein Fremdenführer mit reindrängen, aber Terence zeigte ihm seinen Dienstausweis, da ließ er uns in Ruhe.
- Tja, sagte er. Das sind unsere Notstandsbefugnisse. Kriegt nicht jeder. Ein Jahr Grundausbildung, 3 Jahre Streifendienst, 20 Jahre Ochsentour die Rangleiter hoch. Ich wusste doch, dass es mal zu etwas nütze sein würde.
Unsere Kugel erhob sich in die Luft. Ein so unglaubliches Gefühl, dass ich eine Gänsehaut bekam. Ich wünschte nur, mein Junge wäre dabei gewesen. Er hätte gesagt: IST DAS DAS GRÖSSTE RIESENRAD IM UNIVERSUM? Und ich hätte geantwortet: Nein, mein Liebling, es ist nicht mal halb so groß wie das Lenkrad von Gottes Astra. Darauf er: UND WIESO DREHT ES SICH? Darauf ich: Es dreht sich, weil Harry Potter es verzaubert hat. Und mein Junge hätte
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