Liebes Leben: 14 Erzählungen (German Edition)
einen Strohhalm für ein Gespräch hinhielt!
Als sie ihre Theorie der unguten Spannungen aufgestellt hatte, fühlte sie sich wesentlich besser und legte keinen Wert mehr darauf, ob jemand mit ihr redete oder nicht. Sie zog die Schuhe aus, und die Erleichterung war ungeheuer wohltuend. Sie lehnte sich an die Wand und streckte die Beine aus auf einem der weniger begangenen Wege. Sie mochte nicht riskieren, ihr Glas auf den Teppich zu verschütten, also trank sie es hastig aus.
Ein Mann beugte sich über sie. Er fragte: »Wie sind Sie hergekommen?«
Ihr taten seine armen eingesperrten Füße leid. Ihr tat jeder leid, der stehen musste.
Sie sagte, sie sei eingeladen.
»Ja. Aber sind Sie mit dem Auto hier?«
»Ich bin gelaufen.« Aber das genügte nicht, und nach einer Weile gelang es ihr, das zu vervollständigen.
»Ich bin mit dem Bus gekommen, dann bin ich gelaufen.«
Einer der Männer aus dem erlauchten Kreis stand jetzt hinter dem Mann in den Schuhen. Er sagte: »Großartige Idee.« Er schien sogar bereit, mit ihr zu reden.
Der erste Mann mochte den anderen nicht besonders. Er hatte Gretas Schuhe aufgesammelt, aber sie wies sie zurück und erklärte, dass sie zu weh taten.
»Dann nehmen Sie sie in die Hand. Oder ich nehme sie. Können Sie aufstehen?«
Sie sah sich hilfesuchend nach dem wichtigen Mann um, aber der war nicht mehr da. Jetzt fiel ihr ein, was er geschrieben hatte. Ein Theaterstück über die Duchoborzen, das einen Skandal ausgelöst hatte, weil die Duchoborzen darin nackt auftreten mussten. Natürlich waren es keine echten Duchoborzen, sondern Schauspieler. Und die durften schließlich doch nicht nackt auftreten.
Sie versuchte das dem Mann zu erklären, der ihr aufhalf, aber es interessierte ihn überhaupt nicht. Sie fragte ihn, was er schrieb. Er sagte, er sei kein Schriftsteller, sondern Journalist. Zu Besuch hier mit seinem Sohn und seiner Tochter, den Enkelkindern der Gastgeber. Sie – die Kinder – hatten die Getränke herumgereicht.
»Tödlich«, sagte er und meinte die Getränke. »Kriminell.«
Jetzt waren sie draußen. Greta lief auf Strümpfen über den Rasen und verfehlte nur knapp eine Pfütze.
»Jemand hat sich hier übergeben«, teile sie ihrem Begleiter mit.
»Allerdings«, sagte er und half ihr ins Auto. Die frische Luft hatte ihre Stimmung verändert, von einer unbestimmten Euphorie zu etwas wie Verlegenheit, sogar Scham.
»North Vancouver«, sagte er. Sie musste ihm das erzählt haben. »Ja? Fahren wir los. Richtung Lions Gate.«
Sie hoffte, er würde sie nicht fragen, wieso sie auf dem Empfang war. Wenn sie zugab, dass sie Gedichte schrieb, musste er ihre gegenwärtige Situation, ihre Trunkenheit, für nur allzu typisch halten. Es war noch nicht dunkel, aber schon Abend. Sie schienen in die richtige Richtung zu fahren, am Wasser entlang, dann über eine Brücke. Die Burrard Street Bridge. Danach weiter im Strom der Autos, sie schlug immer wieder die Augen auf und sah Bäume vorbeisausen, dann fielen sie ihr wieder zu, ohne dass sie es wollte. Als das Auto anhielt, wusste sie allerdings, dass sie noch nicht zu Hause sein konnten. Das heißt, bei ihr zu Hause.
Diese großen, dicht belaubten Bäume über ihnen. Man konnte keine Sterne sehen. Aber ein Glitzern auf dem Wasser, zwischen ihrem Standort, wo immer der war, und den Lichtern der Innenstadt.
»Bleiben Sie einfach sitzen und besinnen Sie sich.«
Das Wort entzückte sie.
»Besinnen.«
»Darauf, wie Sie ins Haus gehen werden, zum Beispiel. Schaffen Sie das würdevoll? Übertreiben Sie nicht. Ungezwungen? Ich vermute, Sie sind verheiratet.«
»Ich muss mich erst mal dafür bedanken, dass Sie mich nach Hause fahren«, sagte sie. »So, und jetzt müssen Sie mir sagen, wie Sie heißen.«
Er sagte, das habe er ihr schon gesagt. Vielleicht schon zwei Mal. Aber gut, noch einmal. Harris Bennett. Bennett. Er war der Schwiegersohn der Leute, die den Empfang gegeben hatten. Seine Kinder hatten die Getränke herumgereicht. Er war mit ihnen aus Toronto zu Besuch hier. War sie nun zufrieden?
»Haben die Kinder eine Mutter?«
»Ja, allerdings. Aber sie ist in einer Klinik.«
»Das tut mir leid.«
»Nicht nötig. Es ist eine recht angenehme Klinik. Für geistige Störungen. Oder man könnte auch sagen, für seelische Störungen.«
Sie beeilte sich ihm zu sagen, dass ihr Mann Peter hieß und Ingenieur war und dass sie eine Tochter namens Katy hatten.
»Das ist doch sehr schön«, sagte er und setzte aus der
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