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Liebes Leben: 14 Erzählungen (German Edition)

Liebes Leben: 14 Erzählungen (German Edition)

Titel: Liebes Leben: 14 Erzählungen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alice Munro
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abgezogen war.
    Sie nahm jedoch nicht den Küchenstuhl unter dem Türknauf weg, bis mein Vater nach Hause kam.
    Ich will damit nicht andeuten, dass meine Mutter oft davon sprach. Es war nicht Teil des Repertoires, das ich im Laufe der Zeit kennenlernte und zum größten Teil interessant fand. Ihr Kampf darum, auf die Highschool gehen zu dürfen. Die Schule in Alberta, an der sie unterrichtete, und zu der Kinder auf dem Pferd angeritten kamen. Die Freundinnen, die sie am Lehrerseminar hatte, die unschuldigen Streiche, die gespielt wurden.
    Ich konnte immer verstehen, was sie sagte, auch als sie nur noch mit dumpfer, erstickter Stimme sprach und andere es oft nicht mehr konnten. Ich war ihre Dolmetscherin, und manchmal war es für mich das reine Elend, wenn ich umständliche Sätze oder das, was sie für Scherze hielt, wiederholen musste und deutlich merkte, dass die netten Leute, die für einen Plausch stehen geblieben waren, sich sehnlichst fortwünschten.
    Die Heimsuchung der alten Mrs Netterfield, wie sie es nannte, gehörte zu den Dingen, über die ich nicht reden sollte. Aber ich muss lange Zeit davon gewusst haben. Ich erinnere mich daran, sie einmal gefragt zu haben, was aus der Frau geworden war.
    »Man hat sie weggebracht«, sagte sie. »Glaube ich jedenfalls. Sie musste nicht alleine sterben.«
     
     
    Nachdem ich geheiratet hatte und nach Vancouver gezogen war, bekam ich immer noch die Wochenzeitung aus der Stadt, in der ich aufgewachsen war. Ich denke, jemand, vielleicht mein Vater und seine zweite Frau, sorgten für mein Abonnement. Oft schaute ich kaum hinein, aber einmal, als ich es tat, sah ich den Namen Netterfield. Es war nicht der Name jemandes, der gegenwärtig in der Stadt lebte, sondern offenbar der Mädchenname einer Frau in Portland, Oregon, die der Zeitung einen Brief geschrieben hatte. Diese Frau hatte wie ich immer noch ein Abonnement der Zeitung aus ihrer Heimatstadt, und sie hatte ein Gedicht über ihre Kindheit dort geschrieben.
    Die weiten, grünen Auen,
    Die sanft zum Fluss sich senken,
    Ich möcht sie wieder schauen,
    Dass sie mir Frieden schenken …
    Es gab mehrere Strophen, und während ich sie las, begriff ich nach und nach, dass die Frau von derselben Flussniederung sprach, die ich für mein Eigentum gehalten hatte.
    »Die Zeilen, die ich beifüge, wurden aus Erinnerungen an jene alten Hänge verfasst«, schrieb sie. »Wenn ihnen ein wenig Platz in Ihrer altehrwürdigen Zeitung gewährt wird, bin ich Ihnen dankbar.«
    Der Fluss strömt rasch und mächtig
    Im Sonnenlicht dahin,
    Und drüben sieht man prächtig
    Die wilden Blumen blühn.
    Das war unser Ufer. Mein Ufer. Eine weitere Strophe ging über eine Gruppe von Ahornbäumen, aber da, glaube ich, täuschte sie ihre Erinnerung – das waren Ulmen, die inzwischen alle dem Ulmensterben zum Opfer gefallen sind.
    Der Rest des Briefes machte die Dinge klarer. Die Frau schrieb, dass ihr Vater – dessen Name Netterfield gewesen war – im Jahre 1883 von der Regierung ein Stück Land gekauft hatte, in dem Gebiet, das später die Untere Stadt genannt wurde. Das Grundstück reichte bis zum Maitland River.
    Am Ufer wachsen Lattich
    Und Iris Jahr für Jahr,
    Doch auf dem Wasser labt sich
    Der weißen Gänse Schar.
    Sie hatte ausgelassen, dass die Quelle immer von Pferdehufen verschlammt und rundherum verschmutzt war, geradeso, wie ich es auch getan hätte. Und von dem Kot war natürlich auch nicht die Rede.
    Tatsächlich hatte ich einst selbst einige Gedichte verfasst, von sehr ähnlicher Machart, obwohl sie verlorengegangen sind und vielleicht nie aufgeschrieben wurden. Verse, die die Natur lobten und sich dann schwer zu Ende bringen ließen. Ich muss sie zu der Zeit gedichtet haben, als ich so renitent gegen meine Mutter war und mein Vater mich nach Strich und Faden versohlte. Oder mir den Teufel aus dem Leib prügelte, wie die Leute damals fröhlich sagten.
    Diese Frau schrieb, dass sie 1876 geboren worden war. Sie hatte ihre Jugend bis zu ihrer Heirat im Haus ihres Vaters verbracht. Das stand, wo die Stadt endete und das offene Land begann, mit Aussicht auf den Sonnenuntergang.
    Unser Haus.
     
     
    Ist es möglich, dass meine Mutter nie davon erfuhr, nie wusste, dass es unser Haus war, in dem die Familie Netterfield früher gewohnt hatte, und dass die alte Frau in die Fenster des Hauses schaute, das einmal ihr Heim gewesen war?
    Es ist möglich. Auf meine alten Tage habe ich ein Interesse für Archive und die langweilige

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