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Liebes Leben: 14 Erzählungen (German Edition)

Liebes Leben: 14 Erzählungen (German Edition)

Titel: Liebes Leben: 14 Erzählungen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alice Munro
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Cellist verschwunden. Dort oben muss eine Seitentür gewesen sein, durch die sie fliehen konnten. Onkel Jasper hatte Bernice auf den Platz der Frau gesetzt.
    Als Bernice zu spielen begann, trat mein Onkel vor und machte eine Geste zur Trauergemeinde. Steht auf und singt, besagte diese Geste, und einige taten es. Dann mehr. Dann alle.
    Sie blätterten in ihren Gesangbüchern herum, aber die meisten konnten zu singen anfangen, noch bevor sie den Text gefunden hatten. »Das alte schlichte Kreuz«.
    Onkel Jaspers Arbeit ist getan. Er kann zurückkommen und den Platz einnehmen, den wir ihm freigehalten haben.
    Bis auf ein Problem. Etwas, womit er nicht gerechnet hat.
    Dies ist eine anglikanische Kirche. In der vereinigten Kirche, an die Onkel Jasper gewöhnt ist, kommen die Mitglieder des Chors durch eine Tür hinter der Kanzel herein und lassen sich nieder, bevor der Pfarrer erscheint, damit sie auf freundschaftliche Art, im Sinne von »Hier sind wir nun alle versammelt« zur Gemeinde hinüberschauen können. Dann kommt der Pfarrer, das Signal, dass es losgeht. Aber in der anglikanischen Kirche kommen die Mitglieder des Chors von hinten den Mittelgang herauf, sie singen und geben sich ernst, doch unpersönlich. Sie heben den Blick von ihren Büchern nur, um nach vorn zum Altar zu schauen, und sie wirken ein wenig entrückt, ihrer Alltagsidentität enthoben, nehmen kaum Notiz von ihren Verwandten oder Nachbarn oder sonst jemandem in der Gemeinde.
    Jetzt kommen sie den Mittelgang herauf und singen »Das alte schlichte Kreuz« wie alle anderen – Onkel Jasper muss vorher mit ihnen geredet haben. Vielleicht hat er das zum Lieblingslied der Verstorbenen erklärt.
    Das Problem besteht aus dem Missverhältnis von vorhandenem Platz und den vielen Anwesenden. Der Chor im Mittelgang versperrt Onkel Jasper den Weg zu unserer Bank. Er weiß nicht, wohin.
    Es bleibt nur eins zu tun, und das schnell, also tut er es. Der Chor hat die allererste Bank noch nicht erreicht, also drängt er sich dort hinein. Die Leute, die dort stehen, sind überrascht, machen ihm jedoch Platz. Das heißt, so gut sie können. Zufällig sind sie alle beleibt, und er ist zwar ein magerer, aber breit gebauter Mann.
    Ich will es stets bewahren, das alte schlichte Kreuz,
    Bis alle Kunstjuwelen der Tod mir nehmen wird.
    Ich will’s in Ehren halten, das alte schlichte Kreuz,
    Bis eines lichten Tages es mir zur Krone wird.
    Das sind die Worte, die mein Onkel singt, so kraftvoll, wie er kann bei dem wenigen Platz, den er hat. Er kann sich nicht dem Altar zuwenden, sondern muss sich die Profile der vorbeiziehenden Chorsänger ansehen. Er sieht ein wenig aus, als sitze er in der Falle. Alles hat geklappt, trotzdem ist es nicht ganz so, wie er es sich vorgestellt hat. Auch als der Gesang geendet hat, bleibt er, wo er ist, quetscht sich zwischen diesen Leuten auf die Bank. Vielleicht denkt er, es wäre falsch, jetzt aufzustehen und den Mittelgang hinunter zu uns zu gehen.
    Tante Dawn hat nicht mitgesungen, weil sie im Gesangbuch nicht die richtige Seite gefunden hat. Anscheinend brachte sie es nicht fertig, nur die Lippen zu bewegen, wie ich es tat.
    Oder vielleicht nahm sie den Anflug von Enttäuschung auf Onkel Jaspers Gesicht wahr, bevor sie ihm selbst bewusst wurde.
    Oder vielleicht merkte sie, dass sie das alles zum ersten Mal nicht kümmerte. Nicht im mindesten.
     
     
    »Lasset uns beten«, sagt der Pfarrer.

Stolz
    M anche Menschen machen alles falsch. Wie soll ich das erklären? Ich meine, es gibt welche, die alles gegen sich haben – ob sie nun zwanzig oder dreißig Schläge abkriegen –, und sie machen sich prima. Die früh Fehler begehen – sich zum Beispiel in der zweiten Klasse in die Hose machen – und dann bis an ihr Ende in einer Kleinstadt wie unserer weiterleben, in der nichts vergessen wird (keine Kleinstadt ist darin anders), und sie kommen zurecht, geben sich herzlich und jovial, behaupten aus Überzeugung, dass sie um nichts in der Welt irgendwo anders leben möchten als hier.
    Bei anderen ist es anders. Sie ziehen nicht weg, obwohl man wünscht, sie hätten es getan. Zu ihrem eigenen Besten, möchte man sagen. Welche Grube sie auch angefangen haben, sich zu graben, als sie klein waren – gar nicht unbedingt so offensichtlich wie die eingeferkelte Hose –, sie bleiben dabei, graben weiter, übertreiben es sogar, wenn die Gefahr besteht, dass es nicht wahrgenommen wird.
    Natürlich hat sich vieles verändert. Es gibt Therapeuten,

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