Liebes Leben: 14 Erzählungen (German Edition)
Zuverlässigkeit ankam, so immer noch die allgemeine Überzeugung, da brauchte man einen Mann.
Ich habe mich manchmal gefragt, warum eine Hasenscharte, ordentlich, wenn auch nicht sehr geschickt wegoperiert, und eine Stimme, die etwas seltsam klang, aber sich verständlich machen konnte, als ausreichend galten, um mich zu Hause zu lassen? Ich muss meine Einberufung erhalten haben, ich muss zum Arzt gegangen sein, um freigestellt zu werden. Ich weiß es einfach nicht mehr. Hatte ich mich schon so daran gewöhnt, von diesem oder jenem freigestellt zu werden, dass es für mich, wie vieles andere auch, völlig selbstverständlich war?
Es kann sein, dass ich von meiner Mutter verlangte, über einige Dinge den Mund zu halten, obwohl ich auf das, was sie sagte, meistens nicht viel gab. Sie sah unweigerlich alles in rosigem Licht. Andere Dinge wusste ich, aber nicht von ihr. Ich wusste, dass sie meinetwegen Angst hatte, weitere Kinder zu kriegen, und von einem Mann, der mal an ihr interessiert war, verlassen wurde, als sie ihm das sagte. Aber es kam mir nicht in den Sinn, mit ihr oder mir Mitleid zu empfinden. Ich vermisste weder einen Vater, der gestorben war, bevor ich ihn überhaupt kennenlernen konnte, noch irgendeine Freundin, die ich vielleicht gehabt hätte, wenn ich anders ausgesehen hätte, noch das kurze Herumstolzieren, bevor es an die Front ging.
Meine Mutter und ich hatten Sachen, die wir gerne zu Abend aßen, und Radiosendungen, die wir gerne hörten, dazu immer die Überseenachrichten vom BBC , die wir hörten, bevor wir zu Bett gingen. Die Augen meiner Mutter glänzten, wenn der König sprach oder Winston Churchill. Ich nahm sie in den Film
Mrs Miniver
mit, und der ging auch ihr nahe. Dramen traten in unser Leben, die imaginären und die realen. Der Rückzug aus Dünkirchen, das tapfere Verhalten der königlichen Familie, die Bombardierung von London Nacht für Nacht und das Geläut von Big Ben zur Ankündigung düsterer Nachrichten. Kriegsschiffe, die untergingen, und dann, ganz furchtbar, ein Passagierschiff, eine Fähre, versenkt zwischen Kanada und Neufundland, so dicht vor unserer eigenen Küste.
In der Nacht konnte ich nicht schlafen und lief durch die Straßen der Stadt. Ich musste an die Menschen denken, die auf den Grund des Meeres gesunken waren. Alte Frauen, fast so alt wie meine Mutter, die an ihrem Strickzeug festhielten. Ein Kind mit Zahnweh. Andere, die ihre letzte halbe Stunde vor dem Ertrinken damit zugebracht hatten, über Seekrankheit zu klagen. Mich überkam ein ganz sonderbares Gefühl, das zum Teil Entsetzen war und zum Teil – genauer kann ich es nicht beschreiben – eine Art von schauriger Erregung. Die Vernichtung von allem, die Gleichheit – ich muss es sagen – die Gleichheit, ganz plötzlich, von Leuten wie mir und welchen, die noch schlimmer dran waren als ich, und von Leuten wie denen.
Natürlich verschwand dieses Gefühl, als ich mich an bestimmte Anblicke gewöhnte, später im Krieg. Nackte gesunde Hintern, dünne alte Hintern, alle in die Gaskammern getrieben.
Oder wenn es nicht ganz verschwand, lernte ich, es zu unterdrücken.
Ich muss Oneida in diesen Jahren öfter begegnet sein und gewusst haben, was sich in ihrem Leben tat. Zwangsläufig. Ihr Vater starb unmittelbar vor dem Tag des Sieges in Europa, wodurch seine Beerdigung auf peinliche Art den Siegesfeiern ins Gehege kam. Ähnlich war’s beim Tod meiner Mutter, der sich im anschließenden Sommer ereignete, gerade als alle von der Atombombe hörten. Meine Mutter starb allerdings erschreckender und öffentlicher, bei der Arbeit, direkt nachdem sie gesagt hatte: »Ich muss mich mal hinsetzen.«
Von Oneidas Vater war in seinem letzten Lebensjahr kaum noch etwas zu sehen oder zu hören gewesen. Der Mummenschanz von Hawksburg war vorbei, aber Oneida schien mehr denn je zu tun zu haben. Oder vielleicht bekam man damals einfach den Eindruck, dass jeder, den man traf, viel zu tun hatte, man musste mit den Bezugsscheinheften hinterhersein, Briefe an die Front schreiben und aufgeben und von Briefen erzählen, die man von der Front erhalten hatte.
Und in Oneidas Fall war da dieses große Haus, um das sie sich jetzt ganz alleine kümmern musste.
Sie hielt mich eines Tages auf der Straße an und sagte, sie würde gerne meinen Rat haben für den Verkauf. Des Hauses. Ich sagte, ich sei eigentlich nicht derjenige, mit dem sie reden müsse. Sie sagte, vielleicht nicht, aber mich kenne sie. Natürlich kannte sie
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