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Liebesdienst

Liebesdienst

Titel: Liebesdienst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Howard Jacobson
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an dem heiseren, verworfenen Klang des Wortes und waren berauscht von der Entzauberung der Frauen – der Entzauberung des Sexuellen im Allgemeinen –, die in der Bedeutung des Wortes liegt. Rasend und wie von Hurerei besessen, trieben sie Unzucht, fingen sich Syphilis ein, vermuteten hinter jedem Lächeln eine versteckte Lüge und hielten keine Frau für unschuldig. Für mich dagegen, der ich keineswegs weniger zügellos bin, doch die Falschheit der Frauen als etwas anderes betrachte – sagen wir mal, als Chance und nicht als Fluch, und sicher mit mehr Verständnis –, ist das Schicksal eher ein Zuhälter als eine Hure. Wie ließe sich sonst erklären, dass Marius, dem die ganze Welt offen stand, ausgerechnet zu einem Zeitpunkt, als ich seines besonderen Talents dringend bedurfte, darauf verfiel, sich in meiner unmittelbaren Nachbarschaft niederzulassen, sodass sich unsere Wege, das gemeinsame Interesse an antiquarischen Büchern einmal beiseitegelassen, irgendwann unweigerlich kreuzten und ich ihn mir irgendwann unweigerlich ins Haus holen musste.

Er wohnte, wie ich herausfand, über einem Knopfgeschäft, in einer kleinen Seitenstraße mit romantischen Restaurants und schicken Boutiquen inmitten des Trubels, als wollte er sich jeden Tag vorführen lassen, was er versäumte. Auf der einen Seite ein Gardinengeschäft, auf der anderen eins für Fleckentferner. Nach links gelangte er in die Wigmore Street, nach rechts in die Harley Street. Nichts, kein Bedürfnis, was sich nicht unmittelbar und jederzeit befriedigen ließ – Kunst, Musik, Käse, Schuhe, Würstchen, Spezialisten für Wirbelsäule, Gehirn, Herz-Kreislauf, neue Bücher, antiquarische Bücher, gelangweilte Frauen pensionierter Professoren –, nur meinte er, nichts von alldem noch zu brauchen. Außer vielleicht den Fleckentferner.
    Sexuell war er, auf seine Art, genauso gestört wie ich, mit dem Unterschied, dass er morgens nicht mehr aus dem Bett kam, um sich daran zu erfreuen. Nicht aus Faulheit, sondern Apathie. Er hatte etwas Schreckliches getan und wollte mit der Welt, in der er es getan hatte, nichts mehr zu schaffen haben.
    Er wachte früh auf, oft noch vor Tagesanbruch, mit einem galligen, sich windenden Wurm in den Eingeweiden. Manchmal fragte er sich, ob nicht vielleicht die Eingeweide selbst der Wurm waren. Er überlegte, ob er sich an den Schreibtisch setzen und etwas schreiben sollte, etwas Episches, Epigrammatisches, doch immer streckte er automatisch die Hand nach der Nachttischlampe aus und las in deren Lichtschein weiter, was ihn bereits in der zurückliegenden Nacht beschäftigt hatte, bis er, weder willens noch unwillens, in den Schlaf geglitten war. Gewöhnlich las er moderne ausländische Literatur in Übersetzungen – er vertrug nur die in plattem Englisch wiedergegebene kühle Erotik der Tschechen und Italiener, wie kalten schwachen Tee.
    Das ist der Prosastil, übrigens, dessen ich mich eigentlich bedienen müsste, wenn ich Marius beschreibe, um ihn so als den herzlosen englischen Libertin darzustellen, an dem die Franzosen so gerne ihre Fantasie auslassen, wie Sir Stephen etwa, einer Figur aus der Geschichte der O, dem O einen Willen aus »Eis und Eisen« attestiert. Doch ist das eine Falschheit der Pornografie, die ich nicht leiden kann: die schlichte Ausdrucksweise. Meine Angst vor Marius – meine Gier nach Marius – lief förmlich über vor Worten.
    Aus Angst vor der eigenen Courage jedoch war Marius nur wenig produktiv. Auf seinem Schreibtisch lag ein Notizbuch, das er als Student vor beinahe zwanzig Jahren erworben hatte, in der Absicht, darin eine englische Version von Baudelaires spleenigen Streifzügen durch das nächtliche Paris niederzuschreiben. Den Titel hatte er bereits: Vier Uhr . Die Stunde, die Marius erregte. Mitternacht? Ach was. Mitternacht war das Klischee. Wenn die vierundzwanzig Stunden des Tages nur die Schwankungen unserer Begierden markierten, dann war vier Uhr für Marius die Stunde, in der seine Feder aufs Äußerste gespannt war. Früher einmal hatte sie wie ein Lebenselixier auf ihn gewirkt. Er ging durch die Straßen und nahm das Oszillieren zwischen Tag und Abend als eine Veränderung der eigenen Körpertemperatur wahr. Er hörte, wie sein Blut heiß wurde. Jetzt schaute er nur aus dem Fenster über dem Knopfgeschäft. Vier Uhr in der Stadt – die

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