Liebesdienste / Roman
Internats zu erholen. Weil es sich um einen deutschen Rummelplatz handelte, war der Ort für Martin irgendwie noch furchterregender. Er wusste nicht, wo Christopher an diesem Nachmittag war, wahrscheinlich spielte er Kricket mit anderen Jungen vom Stützpunkt. Martin hatte den Rummelplatz bereits abends erlebt, als die Lichter, die Gerüche und das Geschrei eine dystopische Vision heraufbeschworen, die zu malen Bosch ein Vergnügen gewesen wäre. Tagsüber wirkte der Ort weniger bedrohlich, und in seinem Kopf hörte er, wie die Stimme seines Vaters, die so etwas (leider) gern tat, schrie: »Stell dich dem, wovor du Angst hast, Junge!« Er bezahlte den Eintritt und schlenderte zaghaft um die Attraktionen, denn nicht die Atmosphäre auf dem Rummelplatz machte ihm die größte Angst, sondern die Fahrgeschäfte. Als Kind hatte er sich schon vor den Schaukeln auf Spielplätzen gefürchtet.
Er kramte in seiner Tasche nach Kleingeld und kaufte sich an einem kleinen Stand einen
Kartoffelpuffer
. Seine Kenntnisse der Sprache waren zweifelhaft, aber bei
Kartoffel
glaubte er sich auf der sicheren Seite. Der Kartoffelpuffer war fett und schmeckte merkwürdig süß und lag ihm wie Blei im Magen, so dass sich die Stimme seines Vaters wirklich einen schlechten Zeitpunkt ausgesucht hatte, um sich erneut zu Wort zu melden, nämlich genau den Augenblick, als Martin an einer riesigen Schiffschaukel vorbeiging. Er kannte das deutsche Wort dafür nicht, wusste aber, dass es auf Englisch »Piratenboot« lautete.
Die Schiffschaukel hob sich und fiel in einer unglaublichen Parabel vom Himmel, die Schreie der Schaukelnden folgten der Flugbahn in einem Auf und Ab des Entsetzens. Allein die Vorstellung, ganz zu schweigen von der Greifbarkeit des Ereignisses direkt vor seiner Nase, jagte ihm einen so vollkommenen Schrecken ein, dass er schon aus Prinzip den Rest des Kartoffelpuffers in einen Abfalleimer warf, eine Karte kaufte und in die Schaukel stieg.
Es war sein Vater, der ins Krankenhaus kam, um ihn abzuholen. Er war dorthin gebracht worden, nachdem er schlaff und halb bewusstlos auf dem Boden der Schiffschaukel aufgefunden worden war. Nichts Psychisches war die Ursache, und es hatte auch nichts mit Mut zu tun, sondern es stellte sich heraus, dass er höchst empfindlich auf G-Kräfte reagierte. Der Arzt, der ihn entließ, lachte und sagte in perfektem Englisch: »Wenn du meinen Rat hören willst, dann bewirb dich nicht als Kampfpilot.«
Sein Vater war im Krankenhaus an seinem Bett vorbeigegangen, ohne ihn zu erkennen. Martin versuchte zu winken, aber sein Vater übersah die schwach wedelnde Hand des Sohnes auf der Bettdecke. Schließlich wies eine Schwester den Weg zu seinem Bett. Sein Vater trug Uniform und wirkte auf der Station fehl am Platz. Er ragte vor Martin auf und sagte: »Du bist eine verdammte Memme, Martin. Reiß dich zusammen.«
»Es gibt Dinge, die nichts mit Charakterschwäche zu tun haben. Es gibt Dinge, die eine Person aufgrund ihrer Konstitution nicht bewältigen kann«, schloss Martin. »Aber das war natürlich in einem anderen Land, in einem anderen Leben.«
»Sehr gut«, sagte Dorothy.
»Es war ein bisschen
dünn«,
sagte der ruppige Mann.
»Mein ganzes Leben war bislang ein bisschen dünn«, sagte Martin.
Zur letzten Stunde des Kurses brachte Dorothy Wein, Cracker und ein großes Stück roten Cheddar mit. Sie holten sich Pappbecher und -teller aus der Küche des Gemeindesaals. Dorothy hob den Becher und sagte, »Also, wir haben überlebt«, was Martin für einen Trinkspruch recht seltsam fand. »Hoffentlich«, fuhr sie fort, »werden wir uns alle im Frühjahrssemester wiedersehen.« Ob es an Weihnachten lag, das kurz bevorstand, oder an den Luftballons oder der Dekoration aus glitzernder Folie oder tatsächlich an der unerwarteten Vorstellung, überlebt zu haben, wusste Martin nicht, aber eine gewisse festliche Stimmung erfüllte sie. Sogar der ruppige Mann und das selbstmörderisch veranlagte Mädchen ließen sich von der Feierlaune mitreißen. Weitere Weinflaschen wurden aus Rucksäcken und DIN -A4-großen Taschen gezogen – zwar waren sie nicht sicher gewesen, ob es zum Abschluss eine »Fete« geben würde, aber sie hatten sich vorbereitet.
Martin nahm an, dass all diese Elemente, vor allem aber der Wein zu der überraschenden Tatsache beitrugen, dass er am nächsten Morgen in Dorothys Bett in Kendal erwachte.
Ihr blasses Gesicht war verquollen, und sie zog die Decke hoch und bat: »Schau mich nicht
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