Liebesdienste / Roman
Brillenschlange ihren kleinen Paso doble vollführt hatte und aus dem Weg gehüpft war, oder der Typ wäre spätestens jetzt geliefert gewesen. Er schaute in den Rückspiegel. Ein blauer Honda Civic, der Fahrer stieg gerade aus – ein Mordskerl, paketeweise Gewichthebermuskeln, fitnessstudiofit, was nicht hieß überlebensfit, im Dschungel oder in der Wüste hätte er im Gegensatz zu Ray keine drei Monate durchgestanden. Nicht einen Tag hätte er durchgestanden. Der Berg trug Handschuhe, hässliche schwarze Lederhandschuhe mit Löchern an den Knöcheln. Auf dem Rücksitz tobte ein Hund, ein bulliger Rottweiler, genau die Art Hund, die man bei einem Kerl wie ihm erwartete. Der Mann war ein wandelndes Klischee. Der Hund auf dem Rücksitz hatte regelrecht einen Anfall, verspritzte seinen Geifer auf die Fenster, kratzte mit den Krallen am Glas. Der Hund machte ihm keine allzu großen Sorgen. Er wusste, wie man Hunde tötete.
Ray stieg aus und ging zur rückwärtigen Stoßstange, um den Schaden in Augenschein zu nehmen. Der Honda-Fahrer brüllte ihn an. »Du blöde dreckige
Fotze,
was hast du dir dabei
gedacht?«
Engländer. Ray wollte etwas sagen, etwas Beschwichtigendes, was den Kerl beruhigte – dem war anzusehen, dass er ein richtiger Dampfkochtopf war, der gleich explodieren würde, der explodieren
wollte,
so wie er herumstapfte, dieser Schwergewichtsboxer ohne Kondition. Ray nahm eine neutrale Haltung ein, setzte eine neutrale Miene auf, aber dann hörte er, wie die Menschenmenge ein leises, kollektives »Aah« des Entsetzens von sich gab, und da sah er den Baseballschläger, der plötzlich aus dem Nirgendwo in der Hand des Kerls aufgetaucht war, und dachte:
Scheiße
.
Das war sein letzter Gedanke für mehrere Sekunden. Als er wieder denken konnte, lag er auf dem Boden und hielt sich die Seite des Kopfes, die der Typ getroffen hatte. Er hörte das Geräusch splitternden Glases – der Bastard schlug die Fenster seines Wagens ein. Vergeblich versuchte er aufzustehen, schaffte es aber nur bis auf die Knie, als würde er beten, und jetzt näherte sich der Kerl mit halb erhobenem Schläger, wog ihn in der Hand, bereit, aufs Ganze zu gehen und ihm den Kopf einzuschlagen. Ray hob schützend den Arm, wodurch ihm noch schwindliger wurde. Als er auf das Kopfsteinpflaster zurücksank, dachte er unwillkürlich: Himmel, war’s das? Er hatte aufgegeben, tatsächlich aufgegeben – was er nie zuvor getan hatte –, da trat jemand aus der Menge vor, schwang etwas Eckiges, Schwarzes und schleuderte es gegen den Honda-Mann, traf ihn an der Schulter und brachte ihn ins Taumeln.
Er verlor erneut für ein paar Sekunden das Bewusstsein, und als er wieder zu sich kam, knieten zwei Polizistinnen neben ihm. Die eine sagte: »Nur die Ruhe, Sir«, während die andere über ihr Funkgerät einen Krankenwagen rief. Zum ersten Mal in seinem Leben war er froh, die Polizei zu sehen.
2
N ie zuvor in seinem Leben hatte Martin so etwas getan. Er brachte nicht einmal die Fliegen in seinem Haus um, sondern verfolgte sie geduldig, stellte ihnen mit einem Glas und einem Teller eine Falle und ließ sie dann frei. Selig sind die Sanftmütigen; denn sie werden das Erdreich besitzen. Er war fünfzig und hatte noch nie wissentlich Gewalt gegen ein anderes Lebewesen geübt, obschon er manchmal glaubte, dass er eher ein Feigling denn ein Pazifist war.
Er hatte in der Schlange gestanden und darauf gewartet, dass jemand anders sich einmischte, als sich die Szene vor ihnen abzuspielen begann, aber die Leute waren in Zuschauerstimmung, Betrachter eines besonders brutalen Theaterstücks, und sie hatten nicht die Absicht, sich das Vergnügen zu verderben. Auch Martin hatte sich anfänglich gefragt, ob es nur eine weitere Vorstellung war – ein Faux-impromptu-Stück, das entweder schockieren sollte oder unsere Unfähigkeit, schockiert zu sein, bloßstellen wollte, weil wir in einer globalen Mediengesellschaft leben, in der wir zu passiven Voyeuren der Gewalt verkommen sind (und so weiter). Das war der Gedanke, der ihm durch den objektiven, intellektuellen Teil seines Gehirns schoss. Der primitive Teil seines Gehirns dachte jedoch: Oh, Scheiße, das ist schrecklich, richtig schrecklich, bitte, der böse Mann soll weggehen. Es überraschte ihn nicht, dass er in seinem Kopf die Stimme seines Vaters hörte
(Reiß dich zusammen,
Martin).
Sein Vater war seit vielen Jahren tot, doch Martin hörte noch oft das Gebell und Gebrüll seines Exerzierplatz-Tonfalls.
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