Liebeserwachen in Virgin River
mir immer schon bei der ersten Begegnung auf Anhieb klar, und ich habe mich selten geirrt. Aber jetzt …“
„Du brauchst einfach ein bisschen Zeit.“
„Jetzt werde ich allerdings keinem Mann mehr trauen. Und wenn doch, würde das schon an ein Wunder grenzen.“
Sie schwiegen beide.
Schließlich sagte Jillian: „Ich fahre eine Weile weg, Kell. Ein Urlaub, ein bisschen Ruhe und Frieden, eine kleine Verschnaufpause.“
„Wohin willst du? Soll ich dir Gesellschaft leisten?“
Jillian musste über das Angebot lächeln. „Ich weiß doch, dass du nicht von der Arbeit wegkommst. Nein, das wird ein Solo-Trip. Bisher habe ich noch keine Ahnung, wohin ich will, aber mach dir keine Sorgen, ich komme schon klar. Alles, was ich brauche, ist etwas Zeit, um die ganze Situation mal sacken zu lassen. Zeit zu heilen.“
Kelly seufzte am Telefon. „Im Ernst, er sollte wirklich nicht auf die Idee kommen, in meinem Restaurant essen zu wollen, denn ich will ihn tot sehen. Und ich hoffe, dass er das jetzt auf Band hat!“
1. KAPITEL
Für Jillian war es bereits eine Art Erleichterung, ein paar Taschen zu packen, ihr kleines Haus in San Jose abzuschließen und einfach losfahren zu können. Es gab wohl kaum etwas, das eine Frau eher das Gefühl vermittelte, um ihr Leben laufen zu müssen, als wenn sie von einem Mann ausgenutzt und betrogen wurde.
Kelly zuliebe legte sie auf ihrer Reise ins Unbekannte einen Zwischenstopp in San Francisco ein, wo sie im Lokal ihrer Schwester zu Abend aß. Es war ungeheuer schwierig, in diesem Fünfsternerestaurant, in dem Kelly die stellvertretende Küchenchefin war, einen Tisch zu ergattern. Leute, die bereit waren, solange zu warten, standen noch zwei Stunden in der Bar herum, nachdem sie sich beim Maître d’hotel angemeldet hatten, und das auch nur bei vorheriger Reservierung. Der Chef de cuisine war ein Mann namens Durant, den man nur unter diesem einen Namen kannte und der regional zu Berühmtheit gelangt war. Aber Jillian erhielt sofort einen ausgezeichneten Tisch, der etwas Privatsphäre bot, und wurde aufs Beste mit sämtlichen Spezialitäten verwöhnt, die das Haus zu bieten hatte. Ihre Schwester musste sämtliche Gefälligkeiten eingefordert haben, damit sie das ermöglichen konnte.
Nach dem Essen machte sich Jillian auf den Weg zu Kellys Wohnung, da sie eine Nacht bleiben wollte. Weil Kelly weit nach ein Uhr morgens aus dem Restaurant zurück war, hatten die beiden Schwestern erst bei einem späten gemeinsamen Frühstück Gelegenheit miteinander zu reden.
„Was hast du nun vor?“, fragte Kelly.
„Da gibt es viele Möglichkeiten“, antwortete Jillian. „Vielleicht fahre ich zum Lake Tahoe oder nach Sun Valley in Idaho, wo ich auch noch nie war. Dabei ist es mir eigentlich nicht so wichtig, irgendein bestimmtes Ziel zu erreichen, als einfach zu fahren. Ich will auf dem Kilometerzähler sehen, wie ich vorwärtskomme und sich die Meilen anhäufen, und symbolisch und in Wirklichkeit die Sache hinter mich bringen. Ich werde in großen, komfortablen, anonymen Hotels und Ferienanlagen wohnen, mich entspannen, gut essen, mir alle Filme anschauen, die ich in den letzten zehn Jahren verpasst habe, und ausgiebig Buchhandlungen durchstöbern. Bevor ich wieder in die Tretmühle zurückkehre, will ich herausfinden, ob ich mich noch daran erinnern kann, wie es war, als ich noch ein Leben hatte.“
„Doch dein Handy hast du natürlich bei dir?“
Jillian lachte. „Ja, das werde ich immer im Auto aufladen, allerdings habe ich nicht vor Anrufe anzunehmen, außer von dir und Harry.“
„Kannst du mir bitte einen Gefallen tun? Kannst du mir jeden Morgen einfach kurz eine SMS schicken und mir sagen, wo du bist? Und können wir auch miteinander telefonieren, bevor meine Schicht anfängt? Nur, damit ich weiß, dass es dir gut geht.“
Von Gutgehen war Jillian so weit entfernt, dass es geradezu lächerlich war. Sie fühlte sich fast reif fürs Irrenhaus. Ihre Aufmerksamkeitsspanne und Konzentrationsfähigkeit war derart gestört, dass es wahrscheinlich keine brillante Idee war, sich hinters Steuer zu setzen. Aber die Vorstellung, mit dem Flugzeug in irgendeinen Urlaubsort auf Hawaii oder nach Cancún zu fliegen, oder gar auf einem Kreuzfahrtschiff festzuhocken, war derart unattraktiv, dass sie diese Möglichkeiten sofort verworfen hatte. Sie wollte den Boden unter ihren Füßen spüren; sie wollte sich wieder wie sich selbst fühlen. Fast schien es ihr so, als würde sie sich selbst nicht
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