Im Sturm der Gefuehle
Prolog
Marlowe House
Northumberland, England
Februar 1805
Sophy, Lady Marlowe, hätte im Nachhinein nicht mehr zu sagen gewusst, wodurch sie eigentlich geweckt worden war. Eben hatte sie noch tief geschlafen, plötzlich lag sie hellwach und mit heftigem Herzklopfen da. Reglos im Bett verharrend, horchte sie auf die Geräusche des Unwetters, das draußen tobte. War es nur das Heulen des Windes, das sie aus dem Schlaf gerissen hatte?
Im schwachen Schein des glimmenden Kaminfeuers konnte sie die Umrisse der Möbelstücke ausmachen, die in ihrem geräumigen Schlafgemach verteilt standen. Alles schien am gewohnten Platz. War sie wieder einmal von einem Albtraum heimgesucht worden?
Plötzlich hörte man von unten einen Ausbruch wüsten Gelächters. Sie verzog den feinen Mund. Die Gäste ihres Mannes. Zweifellos betrunken, trieben sie nun ihre Späße mit den Hausmädchen, die so unklug gewesen waren, sich nicht in ihre Kammern einzuschließen. Natürlich stellte ihr Mann, der Marquis, keine tugendhaften jungen Mädchen als Dienstboten ein. Ein weibliches Wesen, das sich auf Marlowe House verdingte, wusste, worauf es sich einließ, da die Exzesse des Marquis in ganz Northumberland bekannt waren. Ein verächtlicher Ausdruck glitt über ihr Gesicht. Und in ganz London. Eigentlich überall.
Da es sinnlos war, auch nur einen Gedanken an die Laster ihres Mannes zu verschwenden, war Sophy fast wieder eingeschlafen, als ein Geräusch sie von neuem aufschrecken ließ. Ein leises Scharren an ihrer Tür. Jemand versuchte, in ihr Zimmer zu gelangen.
Hellwach setzte sie sich auf und tastete nach der geladenen Pistole, die stets in Reichweite lag. War es Simon, ihr verabscheuungswürdiger Mann, der seine ehelichen Rechte geltend machen wollte? Oder einer seiner sauberen Kumpane - Grimshaw oder Marquette vielleicht die so betrunken waren, dass sie nicht davor zurückschreckten, zudringlich zu werden?
Sie stand auf, schlüpfte in einen Morgenmantel und zündete hastig den kleinen, in der Nähe stehenden Kerzenleuchter an. Die Pistole fest umklammert, starrte sie zu der massiven Tür, die auf den Hauptkorridor des Hauses führte. An der Kristallklinke wurde mit aller Gewalt gerüttelt. Sophy lächelte bitter. Es sah aus, als stünde ihr ungebetener Besuch bevor. Es wäre nicht das erste Mal. In den fast drei Jahren ihrer Ehe mit Simon, Marquis of Marlowe, hatte sie sehr gut gelernt, sich zu schützen, nicht nur vor ihm, sondern auch vor seinen Freunden. Sie hatte einen langen, schmerzlichen Weg zurückgelegt, seitdem sie sich als unschuldige, naive Siebzehnjährige vom Werben des viel älteren Simon hatte beeindrucken lassen. Was für ein verträumtes, albernes Gänschen ich doch war, gestand sie sich zornig ein.
Sie ging zur Tür und stellte den Kerzenleuchter auf ein Tischchen. Die Pistole schussbereit in der Hand, atmete sie tief durch. Dann drehte sie den Schlüssel um und riss die Tür weit auf.
Ohne überrascht zu sein, starrte sie den elegant gekleideten Gentleman an, der betrunken schwankend vor ihr stand. Obwohl sein ausschweifendes Leben nicht spurlos an ihm vorübergegangen war, wirkte Simon Marlowe mit seinem dichten schwarzen Haar, dem gesunden Teint und der straffen, schlanken Gestalt noch immer sehr stattlich. Mit nicht ganz dreiundvierzig Jahren zeigten seine markanten Züge aber auch schon Ansätze von Verlebtheit, zumal die blauen, kalten Augen, deren leerer, lebloser Blick von ausgiebiger Lasterhaftigkeit kündete.
Diese Augen waren nun auf sie fixiert, und ein Begehren flammte in ihren Tiefen auf, als er ihre hoch gewachsene, ranke Gestalt in der Tür stehen sah. Es erlosch in dem Moment, als sie die Pistole hob und auf sein Herz zielte.
»Du hörst mir wohl nie zu, lieber Mann?«, fragte Sophy leise. Ihre goldenen Augen nahmen kühl sein Gesicht ins Visier. »Schon vor über einem Jahr sagte ich, dass ich mich von dir nicht mehr missbrauchen lasse. Seither hat mich nichts in meinem Entschluss schwankend gemacht. Ich lasse mich von dir nicht mehr schlagen und demütigen. Wenn du weiterhin versuchst, dir gewaltsam Zutritt zu meinem Bett zu verschaffen, töte ich dich.«
Simon stieß mit hässlicher Miene einen gemeinen Fluch aus. »Du eingebildetes Luder! Du bist meine Frau! Du darfst dich mir nicht verweigern. Wie kannst du es wagen, mir zu drohen?!«
Sophy lächelte unmerklich. »Ich wage es, denn wenn ich es nicht täte, bliebe mir nichts anderes übrig, als mich selbst umzubringen, um nicht
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