Liebesleben/Mann und Frau/Späte Familie
über ihn zu bestimmen. Die Schwester fragt, wer hat dann über ihn zu bestimmen, wem gehört er, und der Polizist deutet mit seinem dicken Finger auf mich, wem gehört sie denn, er gehört sich selbst, genau wie sie auch. Hat er eine Familie, fragt sie hoffnungsvoll, man muß seine Familie anrufen, damit sie kommen und ihn holen, und zu unserer Verblüffung fängt er an zu weinen, ruft meine Eltern nicht an, nur nicht meine Eltern. Aber Jirmejahu, sagt die Schwester, deine Wunde ist schon in Ordnung, du wirst gleich von hier entlassen, jemand muß dir Kleider bringen, du bist doch ohne was aus dem Gefängnis hierhergekommen, erinnerst du dich nicht, du kannst doch nicht im Pyjama weggehen, und er sagt, warum soll ich überhaupt weggehen, meine Wunde ist noch nicht verheilt, ihr jagt mich absichtlich zu früh weg, wenn sie so eine Wunde hätte, er deutet mit einer Kinnbewegung zu mir, hättet ihr sie wochenlang hierbehalten.
Komm, Noga, gehen wir hinunter, sage ich, essen wir was, aber sie klammert sich an das leere Bett, ich bleibe hier, bis Papa zurückkommt, sie packt das Laken, wie sie früher ihre Babydecke gepackt hat, und ich flehe, Noga, ich ersticke hier, komm mit, ich brauche ein bißchen Luft, aber sie beharrt darauf, wir bleiben hier, damit Papa gesund wird, und ich werde gereizt, das hängt nicht von uns ab, es wäre schön, wenn es von uns abhinge.
Warum habe ich dann das Gefühl, daß es doch so ist, sagt sie, und ihre Sicherheit macht mir angst, ich gebe mich geschlagen, in Ordnung, wenn du es so fühlst, aber dann laß wenigstens zu, daß ich dir was bringe, du hast doch bestimmt Hunger, und sie sagt, ich werde erst dann etwas essen, wenn Papa wieder gesund ist, und ich schaue mich verzweifelt um, ich habe nichts mehr zu sagen, ich habe nichts mehr zu tun, ich kann nur hoffen, daß die Zeit schnell vorbeigeht, wieder warten wir auf ihn, daran sind wir gewöhnt, wir warten, daß er von seinen Ausflügen zurückkommt, staubig und müde, und sich in unseren Alltag einfügt, daß er mit uns spricht, daß er mit uns ißt, aber er hat immer eine Stunde vor der Mahlzeit Hunger, oder eine Stunde danach, und genau dann, wenn Noga aus der Schule heimkommt, schläft er ein, und wenn sie schlafen geht, wacht er auf, er bringt uns mit seiner verleugneten Anwesenheit durcheinander, die ihren Hunger nur noch steigert, und ich frage mich, ob er sich drückt, um nicht wieder zu versagen, oder ob es eine Strafe sein soll, für wen ist die Strafe bestimmt, straft er mich, sich selbst, und wofür, vielleicht dafür, was damals, vor fast acht Jahren, passiert ist. An das, was vorher war, kann ich mich kaum mehr erinnern, die Jahre davor sind zu einer Mischung aus Vergoldung und Versöhnung geworden, Noga als Baby auf seinem Arm, wie sie über seine Schulter schaut wie über einen weißen, schneebedeckten Berg, all seine Hemden hatten große weiße Flecken von ihrem Spucken, sie trinkt bei mir und spuckt bei ihm die Milch aus, sie vermischt uns, seine Lippen an ihrem Ohr, er plappert mit ihr in einer Babysprache, so daß sie auf seinem Arm tanzt, ein langer Tanz aus Milch und Honig waren ihre ersten Jahre mit uns.
Der erste Winter, zu dritt in einem Zimmer, in einem Bett, der Ofen die ganze Zeit an, und wenn ich für einen Moment hinausging, war der Rest der Wohnung so kalt, als läge er in einem anderen Land, so daß ich sofort zum Bett zurückrannte, wo ich Noga auf seinem nackten Bauch fand, ein glückliches Lächeln auf dem Gesicht, dann legte ich meinen Kopf auf seine Arme und meine Hand auf ihre Windel über dem kleinen Po, beschützt von seiner Liebe zu ihr, versank in einem Gefühl der Wärme und Süße. Wie geschliffene Spiegel zeigten wir uns gegenseitig unsere Liebe zu ihr, verdoppelt und verdreifacht, und Funken dieser Liebe beleuchteten auch uns. Erstaunt und dankbar für diese warme, schützende Liebe, verließ ich mich vollkommen auf ihn, und wenn er aus dem Haus ging, blieb ich hilflos zurück, fast wurde ich selbst wieder zu einem Baby in ihren ersten Jahren, und er, glücklich und angeregt, murmelte mir Wiegenlieder in die Ohren und klopfte mir auf den Rücken. Wo hatte sich diese Fülle versteckt, die plötzlich über uns hereinbrach, über die kleine Familie, die wir waren, eng und abhängig, allein wie Eingeborene in der Wildnis, die ihr Glück verstecken, als wäre es gestohlen. Manchmal klopften Freunde mit verspäteten Geschenken an die Tür, und wir machten nicht auf, denn eine geheime Kraft
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