Liebeslist und Leidenschaft
ihrer Abwesenheit mehrerer Nachrichten eingegangen waren.
Alle stammten von Anna. Was kann denn so früh am Morgen so wichtig sein? fragte sie sich. Um ihren Vater konnte es eigentlich nicht gehen. Er war auf dem Weg der Besserung und sollte sogar schon bald das Krankenhaus verlassen. Beunruhigt rief sie die Nachrichten ab. Sie hatten alle den gleichen Inhalt – Anna bat sie, so schnell wie möglich zurückzurufen. Sie klingt zwar aufgeregt, aber nicht besorgt, dachte Nicole. Sie brühte sich ihren Tee auf und setzte sich dann mit Tasse und Telefon aufs Sofa – direkt neben die Stelle, wo Nate bei seinem Besuch gesessen hatte. Die Polsterung war so altersschwach, dass der Abdruck, den er hinterlassen hatte, immer noch zu sehen war.
Versonnen fuhr Nicole mit der Hand über die Stelle, als könnte sie so etwas von ihm in sich aufnehmen. Erst als eine besonders heftige Windbö gegen die Fenster schlug, wurde sie aus ihrer Träumerei gerissen. Sie musste jetzt telefonieren, sie brauchte nicht an Nate zu denken. Jetzt nicht und überhaupt nie.
Schon beim ersten Klingeln nahm Anna ab. „Nic, Judd muss dich dringend sprechen. Bleib dran, ich stelle dich durch.“
„Wie geht es dir?“, hörte sie Judds dunkle Stimme.
„Ganz gut. Das Wetter ist im Moment zwar katastrophal, aber davon abgesehen, ist alles in Ordnung.“ Da rede ich schon mal mit meinem Bruder, dachte sie, und dann über etwas so Belangloses wie das Wetter.
„Freut mich, dass es dir gut geht. Ich komme am besten gleich zur Sache. Es gibt einige wichtige geschäftliche Dinge, die ich mit dir besprechen müsste, aber möglichst nicht am Telefon. Kannst du am Montag ins Büro kommen? Wäre mir lieber, wenn wir das im persönlichen Gespräch klären könnten. Von Angesicht zu Angesicht.“
Natürlich lässt sich das einrichten, dachte sie verbittert. Mein Terminkalender quillt ja nicht gerade über.
„Montag, geht klar. Um welche Uhrzeit?“
„Sagen wir um elf? Dann hast du genug Zeit, von deinem Ferienhaus hierherzufahren.“
„In Ordnung, machen wir.“
Nachdem er ihre Zusage erhalten hatte, hielt Judd sich nicht mehr lange mit freundlichen Plaudereien auf, sondern beendete das Gespräch schnell. Nun ja, sie hatten ja auch kein normales Bruder-Schwester-Verhältnis. Sie hatten nie die Gelegenheit bekommen, eins zu entwickeln. Nicole fragte sich, was er wohl mit ihr zu besprechen hatte. Hoffentlich bot er ihr an, zu Wilson Wines zurückzukehren. Vielleicht konnte sie dann wiedergutmachen, was sie durch ihre Arbeit für Jackson Importers angerichtet hatte.
Am Montagmorgen machte Nicole sich früher als nötig auf den Weg. In der Nacht hatte sie wieder einmal nur von Nate geträumt, deshalb war sie froh, sich durch die Fahrt abzulenken. Je näher sie Auckland kam, desto dichter wurde der Verkehr.
Es war ein komisches Gefühl, nach so langer Zeit wieder auf ihren alten Parkplatz bei Wilson Wines zu fahren. Und das Gefühl verstärkte sich noch, als sie das Gebäude betrat. Alles war noch genau wie immer. Warum hätte sich auch etwas ändern sollen? fragte sie sich. Aber ich habe in letzter Zeit so viel erlebt, dass ich irgendwie gedacht habe, auch hier müsste etwas anders geworden sein.
Die junge Frau am Empfang sagte ihr, sie solle schon hochgehen; Judd würde bereits auf sie warten. Oben traf sie Anna, die sie freudig umarmte.
„Weißt du, worum es geht?“, fragte Nicole.
„Es ist besser, wenn Judd dir das erklärt“, erwiderte Anna lächelnd. „Er wartet im Büro auf dich. Im alten Büro deines Vaters.“
„Im alten Büro …? Heißt das, dass Dad nicht zurückkommt …?“
„Wohl eher nicht. Ihm geht es schon sehr viel besser, aber dem täglichen Stress hier auf der Arbeit wird er wohl nicht mehr gewachsen sein.“
Nicole war betroffen. Ihr Vater war ihr immer unbesiegbar erschienen, ein Kraftkerl, der keine Grenzen kannte. Zwar war sie oft mit ihm aneinandergeraten, wenn er ihre Verbesserungsvorschläge und Ideen für Modernisierungen ablehnte, aber trotzdem konnte sie sich das Unternehmen ohne ihn an der Spitze nicht vorstellen.
„Will Judd deswegen mit mir sprechen?“
„Geh einfach rein, dann wirst du schon sehen.“
Nicole holte noch einmal tief Luft und klopfte dann an die Bürotür. Judd öffnete ihr.
„Schön, dass du kommen konntest“, begrüßte er sie, gab ihr die Hand und nahm sie dann kurz in den Arm. Nicht übermäßig herzlich, aber immerhin. „Wir beide hatten ja keinen besonders guten Start
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