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Lieblose Legenden

Lieblose Legenden

Titel: Lieblose Legenden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Hildesheimer
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recht.
Andererseits, meint er, habe das Inselreich auch seine Vorzüge, womit er
ebenfalls recht hat. Dann legt er Hut und Feldstecher ab und sagt, angesichts
dieser großen Leistung bleibe ihm nur noch ein Scherflein beizutragen. Ein
Lächeln der Genugtuung über dieses Lob breitet sich auf den Gesichtern der
anderen Köche aus. Vor allem Marcus Lü strahlt,
obgleich er gar nicht weiß, was ein Scherflein ist. Aber er strahlt eben immer,
der Gute. Man entfernt sich, stapft unruhig und erwartungsvoll durch den
matschigen Schnee der Straßen, in denen laue Windstöße die Passanten hin und
her treiben, — denn es ist über alledem Vorfrühling geworden — aber bald lockt
es uns zurück zum Brei.
    Wir betreten die Küche. Die fünf Köche
stehen um den Herd, jeder mit Gewürzfäßchen in der Hand, und lächeln in
herzerquickender, völkerversöhnender Einigkeit. »After you «,
sagt soeben Sir Edward zu Gaston, der darauf mit fetten Fingern eine größere
Prise Paprika in den Brei streut, die der Brite sofort mit einer Lage
gestoßener Korianderkörner bedeckt. Der alte Philip dagegen ist bei seinem
Safran geblieben, während Kuno und Marcus nun mit großen, ausholenden Gebärden
eine ganze Saat von Pimento und Thymian in den Topf
schütten, die allerdings sogleich von der inzwischen wieder flüssigen,
brodelnden Masse verschlungen wird. Lorbeerblattbedeckt sind Tische und Stühle,
am Boden rollen Muskatnüsse, Basilikum und goldgelber Portulak scheinen aus den Nischen zu sprießen, nicht zu reden von spanischem Pfeffer und
Salz.
    Wir hüpfen zum Herd. Die Köche machen
uns Platz. Wir ziehen den Topf von der Flamme und sehen hinein: Das Brodeln
verstummt sofort, die Masse verhärtet sich: ein dunkelbraun verkrusteter
Klumpen sieht uns an, mit grauen Krater-Augen, unter denen gelbliche Mehl- und
Grießkugeln schillern. Man schabt sich eine Messerspitze von der Oberfläche ab
und kostet. Der Geschmack ist nicht angenehm, gewiß. Aber würde etwa ein
Verhungernder nicht doch davon essen?
     
    Während wir uns still und nachdenklich
diese Frage stellen, öffnet sich die Tür, und ein dicker, kleiner Herr tritt
ein: dunkler Anzug, hellgraue Krawatte, glänzender Kugelkopf, nach der einen
Seite in fleischigen Kaskaden ausladend, nach der anderen in ein Gesicht. Er
stellt sich vor. Er heißt Blutzbach oder Blitzhaus,
oder so ähnlich. Mit Vornamen heißt er, wie er sehr ernsthaft behauptet:
»Gestatten«.
    Er zieht ein winziges Fläschchen aus
der Tasche und träufelt zwei Tropfen einer violetten Flüssigkeit in den Brei.
Es zischt, Schwefeldampf verbreitet sich im Raum, und im Topf befindet sich ein
blauer Kloß, gelblich durchzogen, marmoriert wie negativ gesehener Gorgonzola.
    Ein Blick genügt: es ist soweit.
    Der Brei ist verdorben.
    Man bedankt sich herzlich bei den
Anwesenden, lobt ihre selbstlose Hingabe und sagt, daß es nicht umsonst gewesen
sei. Den Brei garniert man mit ein wenig frischer Petersilie und fächerförmig
geschnittener Gewürzgurke und serviert ihn heiß, auf vorgewärmten Tellern.

Schläferung
    für h. m. e.
     
     
    laß mich
heut nacht in der gitarre schlafen
    in der
verwunderten gitarre der nacht
    laß mich ruhn
    im zerbrochenen holz
    laß meine hände schlafen
    auf ihren saiten
    meine
verwunderten hände
    laß schlafen
    das süße
holz
    laß meine saiten
    laß die nacht
    auf den
vergessenen griffen ruhn
    meine
zerbrochenen hände
    laß schlafen
    auf den
süßen saiten
    im
verwunderten holz
    hans magnus enzensberger
     
     
    Ich werd heute nacht in der Gitarre
schlafen.
    Sie liegt bereit, auf dem rechteckigen
Holztisch, in meinem großen getäfelten Raum mit den drei hohen Fenstern. Sie
liegt allein, ist nicht etwa Teil eines idyllischen Interieurs oder eines
niederländischen Stillebens. Ich plane kein Bild, ich plane meinen Schlaf.
    Der Einstieg in das Instrument bietet
keine Schwierigkeit, ich habe alles geprüft, alles ist vermessen: sein Dach ist
gebrochen, ein doppelter Riß zieht sich im Holz beiderseits der Schallrose vom
äußersten Rand ihrer Rundung abwärts, wo er, halbwegs zwischen Rose und Saitenhalter,
versickert. Das Holz ist also nur der Faser entlang
gespalten. Verliefe die Spaltung quer, so wäre das Instrument nicht mehr zu
gebrauchen. Das Stück Dach zwischen den Rissen federt leicht einwärts. Hier
also werde ich die Saiten anheben wie den Drahtzaun einer verbotenen Kuhwiese,
werde die durch den doppelten Bruch entstandene Latte leicht einwärts biegen,
auf ihr, mich an

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