Lied aus der Vergangenheit
genommen. Kai bemühte sich mit aller Kraft, einen klaren Gedanken zu fassen. Er war hilflos. Er spürte, wie etwas – der Lauf der Pistole – zwischen seine Gesäßbacken gezwängt wurde, hörte das Gelächter, spürte, wie die Mündung in ihn gerammt wurde. Ein scharfer Schmerz, der sich durch seinen ganzen Körper kräuselte. Händeklatschen. Wieherndes Gelächter. Der Pistolenlauf wurde tiefer in ihn hineingestoßen. Er fiel vornüber und wurde hochgezerrt, sodass er wieder auf Händen und Knien stand. Er bekam alles nur am Rande mit, Balia, die zum Schlag ausholte, dann den scharfen Knall der Pistole, den flachen Bogen, den ihr Körper in der Luft beschrieb, als sie rückwärts umfiel.
Sie lag im Sterben, war aber noch nicht tot, als er sie zum Fahrzeug trug. Er sollte hinten aufsteigen und mühte sich ab, sie über die Heckklappe zu stemmen. Keiner half ihm; sie schauten ihm zu und schrien ihn an. Er hatte eine panische Angst zu versagen, gezwungen zu werden sie zurückzulassen. Die Stadt stand in Flammen. Er spürte die Hitze der Brände auf seiner nackten Haut, die Glasscherben in seinen Fußsohlen. Die Rebellen befanden sich auf dem Rückzug. Er kletterte auf die Pritsche und hielt Balia in den Armen.
Sie fuhren in westlicher Richtung, auf die Hügel zu. Die Dämmerung nahte, ein Glühen am Himmel. Ein Hahn krähte, ein so alltägliches Geräusch, dass es aus einer anderen Welt zu kommen schien. Der Schlachtenlärm ließ nach. Sie bogen an einer Kreuzung ab und hielten auf die Halbinselbrücke und den Strand zu. Er versuchte, sich auf den Augenblick zu konzentrieren, auf das, was er tun sollte, sich zum Nachdenken zu zwingen, einen Plan zu machen, aber es gelang ihm nicht. Er hielt Balia fest.
Sie erreichten die Brücke und hielten. Ein Bewaffneter befahl Kai auszusteigen. Er stolperte, zog Balia mit sich. Sie befahlen ihm, sich an das Metallgeländer zu stellen. Er spürte es kalt an seinem Kreuz, erinnerte sich an seine Nacktheit. Ihm kam der absurde Gedanke, dass er, sollten sie ihn freilassen, keine Kleider haben würde. Der Fahrer kletterte schon wieder ins Fahrzeug. Kai verspürte eine momentane Hoffnung. Der Begleiter des Fahrers ging auf die andere Seite des Fahrzeugs, öffnete die Tür, schickte sich an einzusteigen. Kai stand mit Balia in den Armen da. Er beobachtete. Er wartete. Er sah den Mann stehen bleiben und dann zurückkommen, ganz so, als hätte er etwas vergessen. Er kam wieder um das Fahrzeug herum, näherte sich Kai mit plötzlicher Entschlossenheit. Kai wusste, was jetzt kommen würde. Er sah den Mann die Pistole aus seinem Gürtel ziehen, den Arm heben und zielen. Kai schloss die Augen. Balia fest in den Armen, lehnte er den Oberkörper nach hinten, rückwärts über das Geländer, bis er spürte, wie er durch das gemeinsame Gewicht ihrer beiden Körper das Gleichgewicht verlor. Er strampelte. Etwas schlug in sie ein. Ein Geschoss. Er konnte nicht beurteilen, ob es ihn erwischt hatte oder Balia. Er fiel.
Ein Luftschwall. Er spürt, wie sich seine Wangen verformen, sein Körper im Leeren herumwirbelt, Eingeweide und Magen hinterherschleifen. Unmöglich, zu atmen. Balia ist ihm entglitten, er spürt, wie ihr Körper an ihm vorbeistürzt. Er fällt. Dann kommt der Biss des Wassers. Nur das.
Der Biss des Wassers, der ihm sagt, dass er noch am Leben ist.
ZWEI JAHRE SPÄTER
56
Oktober 2003
Er hat Freunde in Norfolk. Eine Handvoll Leute, die er kennengelernt hat, seit er regelmäßig hierherkommt. Es sind größtenteils Rentner. Noch rüstig, ziehen sie es vor, ihr Leben nahe bei den Elementen zu Ende zu führen. Wenn Adrian, wie einst seine Mutter, morgens den Strand entlanggeht, begegnet er Leuten, die er kennt. Dem alten Burschen in Tweedsachen, der jeden Morgen, die Zeitung unter dem Arm, von einem arthritischen Labrador begleitet, vom Laden zurückgeschlendert kommt. Ihn zählt Adrian noch nicht zu seinen Freunden. Bislang grüßen sie sich nur aus der Ferne. Der ältere Mann lüftet den Hut auf durchaus freundliche Weise, doch etwas in seinem Gebaren, die gleichbleibende Geschwindigkeit seines Schritts und die unveränderte Linie seiner Bahn lassen Adrian vermuten, dass Konversation nicht erwünscht ist.
Das Ehepaar im übernächsten Bungalow kannte seine Mutter, als sie noch lebte. Sie haben Adrian erzählt, dass der Mann in Tweedsachen seit fünf Jahren verwitwet ist. Sie haben Adrian mit einer Visitenkarte auf der Fußmatte und einer Einladung zum Sherry begrüßt. Er hat
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