Lied aus der Vergangenheit
vielen Monaten, während der Nacht aufgewacht. Er hatte geträumt, und auch wenn der Traum als solcher ihm nicht mehr gegenwärtig war, hinterließ er in ihm doch ein Gefühl des Wohlbefindens, des Möglichseins. Er ist aus dem Bett aufgestanden und auf den Hof hinausgegangen. Es ging eine Brise, ungewöhnlich für die Zeit des Jahres, es war noch zu früh für den Harmattan. Sie trug einen Hauch von Feuchtigkeit mit sich, von Nachtblüten und taunassem Obst. In der Dunkelheit sangen die Stadthunde einander zu. Irgendwo im hohen Gras rief ein Frosch nach einem unbekannten Partner. Kai atmete tief ein. Er setzte sich auf die Stufe, den Rücken zum Haus gewandt, und begann zu warten. Und endlich sah er das gedämpfte beharrliche Strahlen des Morgens über den Häusern aufgehen.
Heute kommt Tejani heim.
Das Lachen des kleinen Mädchens schwebt noch in der Luft, zieht mit der Ebbe davon. Kai steht auf und ruft die Kinder. Sie rennen um die Wette zu ihm zurück. Er geht ihnen entgegen, trifft sie auf halbem Weg. Das kleine Mädchen öffnet die Hand und zeigt ihm einen fünfblättrigen Sanddollar. Die beiden sind vom Herumrollen im Sand wie mit Zucker überzogen, und Kai geht mit ihnen zurück ans Wasser. Die Kleine reitet gern auf seinen Schultern in die Wellen, reitet ihn wie einen Bullen durch die weißen Brecher.
Von schlafenden Hunden umgeben, winkt ihnen Ileana, vor ihrem Haus, zum Abschied zu. Und dann sitzen sie im Old Faithful, fahren die Uferstraße entlang. Die Leute haben ihre Karossen blank poliert und zur Sonntagsausfahrt hervorgeholt, eine motorisierte Promenade. Ein Blinder tastet sich, einen gelben Beutel über die Schulter geschlungen, mit einer kaputten Krücke die Straße entlang. Das Geräusch der Metallspitze singt durch den Lärm des Verkehrs und der Menschen. Sie halten vor einem jungen Mädchen, das neben einem Korb voll silberner Fische sitzt, und die Autoschlange, die sich hinter ihnen bildet, wird vom Blinden überholt. Im Fond spielen die Kinder mit einem alten Stethoskop, das Kai Abass geschenkt hat. Abwechselnd halten sie die Metallscheibe einander an die Brust, ans Autofenster, an den Sanddollar, zwischen Kais Schulterblätter.
Zehn Minuten, und sie sind wieder unterwegs, fahren um den Kreisverkehr, lassen die anderen Autos hinter sich zurück. Jetzt haben sie die See im Rücken. Vor ihnen entrollt sich, schnurgerade, die Halbinselbrücke. Kai kurbelt das Beifahrerfenster hinunter, und salzige Sumpfluft flutet durch das Auto. Weit draußen sind Leute unterwegs, die nach Muscheln suchen; ihre Stimmen hallen durch die Stille. Kai steckt die Kassette in den Rekorder und lehnt sich, eine Hand am Lenkrad, zurück. Bei den plötzlich einsetzenden Trommelschlägen hören die Kinder auf, mit dem Stethoskop zu spielen. Sie stehen auf und quetschen sich in den Spalt zwischen den Vordersitzen. Well they tell me of a pie up in the sky .
Sie alle sehen den Eisvogel, der, direkt vor dem Auto, von einer Straßenlaterne ins Wasser schießt. Der Vogel steigt wieder auf, ein Fisch funkelt an der Spitze seines Schnabels. Das kleine Mädchen quietscht vor Vergnügen auf. Was sie nicht sehen – gar nicht sehen können –, während sie die Brücke überqueren, sind die Buchstaben, die ein Junge, ein halbes Jahrhundert zuvor, unter die Initialen der Männer, die diese Brücke erbaut hatten, mit dem Zeigefinger in den feuchten Beton der Brückenwand ritzte. J.K.
Danksagung
Ein Lied aus der Vergangenheit ist ein Werk der Fantasie. Dennoch gibt es Menschen, die mir beim Verständnis bestimmter kultureller, medizinischer und sonstiger Realien geholfen haben und denen ich hier danken möchte: den Patienten und dem Personal des Kissy Mental Hospital, Freetown, Sierra Leone, und insbesondere Dr. Edward Nahim, der mir zu einem tieferen Verständnis der Geisteskrankheiten und der posttraumatischen Belastungsstörung verholfen hat; den Patienten und dem Personal des Emergency Medical Hospital in Goderich, die mir die Welt und die Arbeit eines orthopädischen Chirurgen eröffnet haben; und für die allgemeinmedizinische Beratung sowie für einen Einblick in die praktische Herausforderung, die es darstellt, ein Krankenhaus in Afrika zu leiten, dem verstorbenen Dr. Mambu Alphan Kawa. Ich möchte außerdem die Gelegenheit wahrnehmen, an Dr. Aniru Conteh zu erinnern, einen Forscher, der im Jahr 2004 an ebendem Virus starb, dessen Bekämpfung er – wie Dr. Bangura in Ein Lied aus der Vergangenheit, die einzige Gestalt
Weitere Kostenlose Bücher