Lied aus der Vergangenheit
lediglich Wunden zu sehen – was sich versorgen und nähen ließ, welche Gliedmaßen noch zu retten waren und welche nicht. Es handelte sich durchweg um frische Verletzungen. Ein junger Kämpfer, der die Zuneigung seiner Freundin verloren hatte und nicht mehr imstande war, die Neckereien seiner Kameraden zu ertragen, hatte eine Handgranate entschärft und auf die Pritsche eines Lasters geworfen, auf der seine Peiniger saßen.
Nach acht Stunden gab es nicht mehr genügend Licht, um weiterarbeiten zu können. Kai rief nach Captain Amos und bat um die Erlaubnis zu gehen. Der junge Kommandant sah ihn mit Augen an, die von einem undurchsichtigen Dunkel waren und das verbleibende Licht in sich aufzusaugen schienen. Er erklärte Kai, man würde sie vielleicht noch brauchen, sie sollten beide bleiben. Am nächsten Morgen würde man sie freilassen.
Sie legten sich auf den Fußboden, dicht an der Wand. Kai blieb wach, um über Balia zu wachen. Er horchte auf die Geräusche, die von draußen kamen, fern und ganz nah, ein furchterregendes Kommen und Gehen. Er versuchte, Balia zu beruhigen, aber seine Worte klangen in der Dunkelheit hohl. Der Duft nach Ganja. Gelächter, hart und freudlos. Schreie. Musik. Flüche und Gesang. Kreischen. Aufbrandende Bravorufe. Mehr als einmal meinte er, einen Hubschrauber zu hören. Außerdem weitere unerklärliche Geräusche. Dann Schritte. Jemand klopfte im Vorbeigehen an die Tür, worauf Balia wimmerte und sich enger an ihn schmiegte. Kai lauschte konzentriert, versuchte zu begreifen, was sich da abspielte.
Mehrere Stunden nach Einbruch der Dunkelheit öffnete sich die Tür. Jemand hielt Kai eine Petroleumlampe ins Gesicht. Sie waren zu siebt, Kai zählte sorgfältig. Es sah so aus, als wären sie lediglich gekommen, um zu gaffen, als hätten sie gewusst, dass es in dem Zimmer etwas Ungewöhnliches zu sehen gab. Es erfolgten ein paar Umschichtungen, Leute kamen und gingen, riefen andere hinzu. Kai spürte, wie sich sein Herz zusammenzog. Er stand auf, um den Neuankömmlingen auf Augenhöhe zu begegnen.
»Was wollen Sie?«, sagte er.
»Du bis’ der Doktor?« Seiner Stimme nach zu urteilen war er jung. Kai hatte das Gefühl, dass sie alle jung waren, alle kleiner als er jedenfalls. Er hörte, wie in der Dunkelheit eine Flasche weitergereicht wurde.
»Ja«, sagte Kai in der Hoffnung, vielleicht benötigt zu werden.
»Wer’s das? Deine Freundin?«
»Sie ist nicht meine Freundin, sie ist eine Krankenschwester.«
»Sie’s deine Freundin. Schau, wie schön. Hey, warum teilst du deine Freundin nich’ mit uns? Du meinst, weil du der große Doktor bis’, verdienst du was Besseres wie wir.«
Kai fragte nach Captain Amos, erhielt aber keine Antwort. Es war schwer zu erkennen, mit wem er eigentlich sprach: Er konnte sie eher riechen als hören. Jemand griff um ihn herum, packte Balias Arm und zog sie von ihm weg.
»Wir wollen deine Freundin ficken, Mister Doktor.« Der Sprecher hob die Augenbrauen und lächelte breit, selbstsicher. Seine Zähne blinkten im Halbdunkel, während er auf Kais Reaktion wartete. Was als Nächstes kam, würde entscheidend sein. Dann stieß Balia einen Schluchzer aus. Sie fing an zu flehen, ein leises, zitterndes, wehklagendes Geräusch. Gelächter. Balia wand sich und zerrte.
»Sie ist Krankenschwester«, sagte Kai. »Bitte lasst sie gehen.«
Jemand schnalzte mit der Zunge.
Jemand anders sagte: »Die sind beide vom Krankenhaus. Ich hab sie da gesehen. Lassen wir sie in Ruhe.«
Kai schwieg. Er betete darum, dass, wer immer gerade gesprochen hatte, weitersprechen würde. Vielleicht konnte er sich doch noch aus der Sache herausreden.
Dann stieß Balia einen Schrei aus. Ein hysterischer Anfall erschütterte sie. Kai bekam einen Schlag ins Gesicht und fiel rücklings gegen die Wand. Einen Moment lang nahm er nichts mehr wahr. Dann war plötzlich zwischen den Jungen ein Streit im Gang, und Balia kauerte vor ihnen auf dem Fußboden, die Arme vor den Brüsten verschränkt. Er richtete sich mühsam auf. Er spürte, dass ihm Blut die Kehle hinunterrann. Etwas hatte sich seit dem Morgen, als Kai und Balia aus dem Krankenhaus verschleppt worden waren, in den acht Stunden, die sie in dem improvisierten OP-Raum gearbeitet hatten, grundlegend geändert. Kai wusste, dass es nur eins sein konnte. Die Rebellen hatten alles auf die eine Karte gesetzt: die Schlacht um die Stadt. Jetzt verloren sie. Der Siegespreis glitt ihnen unaufhaltsam durch die Finger. Dass sie in den Busch
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