Lied der Wale
schwerer. Blieb nur zu hoffen, dass alle noch eine Weile mit Masaos improvisiertem Feuerwerk beschäftigt waren. Als er die Plattform erreichte, kroch er erneut unter die Abdeckung des Geschützes und bemühte sich mit letzter Kraft, das Seil um die Kanone zu legen. Als es ihm endlich gelang, ließ er den Karabinerhaken am anderen Ende der Schlaufe einrasten. Das Seil hing jetzt auf Höhe des Abzugs von der Kanone herunter, womit sich die Hebelwirkung voll entfalten konnte.
Noch war er alleine auf dem Vorderdeck, doch das Ablenkungsmanöver durch die Leuchtgranaten ging seinem Ende entgegen. Lediglich das Gebrüll und was auch immer Masao und Sam da hinten alles so veranstalteten, schien die Mannschaft der »Hikari« noch auf Trab zu halten. Aber wie lange noch? Er verließ erneut sein Versteck, zog sich die Mütze tief ins Gesicht und stieg betont lässig die Treppe hinab, um fast wie nebenbei auf die Winde zuzusteuern. Dort machte er sich an der Verzurrung der Abdeckung zu schaffen, tat so, als ob er sie kontrolliere und etwas entdeckt habe, kroch dabei blitzschnell darunter.
»Masao, ich bin in zwei Minuten steuerbords«, sagte er ins Funkgerät.
David besah sich die japanisch beschrifteten Schalter, drei große Knöpfe, einer rot, zwei grün. Eindeutig. Er betätigte einen der beiden grünen Knöpfe. Die Winde setzte sich augenblicklich in Bewegung. David erschrak, nicht über die Richtung, in die sie sich bewegte, die war goldrichtig. Er hatte bloß nicht mit dem Höllenlärm gerechnet, den sie verursachte. Im Gegensatz zu den gut gepflegten Winden der »SeaSpirit« gebärdete sich diese hier wie ein tonnenschwerer Trecker gegenüber einem Elektrocaddie. Und sie arbeitete nicht einmal unter Last, denn bislang spulte sie lediglich das lose Stahlseil auf, das David zu lang bemessen hatte. David überlegte, ob es besser wäre zu warten, bis die Winde das Geschütz aus der Halterung gerissen hatte, oder ob er lieberabhauen sollte, bevor ihn – sicher recht bald – jemand von der Mannschaft in Gewahrsam nehmen konnte.
Die Entscheidung wurde ihm abgenommen. Mit einem Ruck hob sich die Plane über seinem Kopf, Tageslicht blendete ihn, und der Finger einer fremden Hand drückte auf den roten Knopf. Augenblicklich verstummte die Winde.
Sie waren zu zweit, schauten beide irritiert auf den Gaijin, der eine ihrer Jacken trug und doch offensichtlich keiner der Ihren war. In Davids Kopf ratterten die Gedanken. Natürlich könnte er wieder den grünen Knopf betätigen. Und die beiden Kleiderschränke wieder den roten. Das Spiel würde sich wiederholen, bis einer der Matrosen auf die glorreiche Idee käme, dass ein Schlag gegen seinen Schädel die effektivere Lösung zum Stoppen der Winde wäre. Wenn er aber jetzt an den beiden vorbeipreschte, bestand zumindest die Möglichkeit, noch unversehrt von Bord zu gelangen. Masao war bereits neben dem Schiff, er müsste nur springen. Im schlimmsten Fall würde er das Boot verfehlen.
Zu spät. Das Muskelpaket, das er schon auf dessen Wachgang gesehen hatte, packte ihn am Kragen und sprach ihn auf Japanisch an. Nein, sein Plan war leider nicht aufgegangen. Und für einen anderen hatte er nicht mehr die Zeit. Also versuchte er es mit einem Bluff, sprach die beiden empört an, als wollte er das Missverständnis erklären, deutete hierhin und dahin, schob sie schließlich energisch zur Seite. Und startete los. Er musste sich beeilen, wenn er ihnen zuvorkommen wollte. Keine Wale, ihr kriegt keinen einzigen mehr! Nicht, wenn er nur den Hauch einer Chance hatte, dies zu verhindern. Er stürzte die Treppe hinauf, während die beiden Matrosen gerade das Seil untersuchten und zu begreifen schienen, wozu es gedacht war. Offenbar gingen sie davon aus, dass David vorhatte, von Bord zu springen, denn bisher waren sie ihm nicht gefolgt. Doch nichts lag ihmferner als das. Er befreite schnell das Geschütz vom Stahlseil und knotete stattdessen die dicke Nylonschnur, deren anderes Ende bereits an einer der Granaten hing, um die Kanone. Von der Brücke her ertönten irgendwelche barschen Befehle, und auch wenn er kein Wort Japanisch verstand, wusste David sehr wohl, an wen sie gerichtet waren. Er schob die Granate in den Lauf, und bevor er die Kanone auf einen Punkt in der Nähe des Schlauchbootes richtete, verständigte er Masao, dass sie das Seil aus dem Wasser fischen und an der »SeaSpirit« befestigen sollten.
»Die Kanone hängt nur noch an ein paar Schrauben. Wir könnten es
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