Lied der Wale
er mit dem Ellenbogen gegen einen Widerstand. David unterdrückte einen Schrei. Offenbar handelte es sich um einen Knauf, der zu einer Tür gehörte. Er öffnete langsam die Tür, darauf bedacht, bloß kein Geräusch zu verursachen. In dem Spind befanden sich einige Regenjacken und Schwimmwesten. David zog eine kleine Taschenlampe aus dem Rucksack. Sie spendete nur wenig Licht, aber der japanische Schriftzug auf den Jacken war gut zu erkennen. Schnell zog er sich eine davon über. Die Tarnung konnte ihm von Nutzen sein.
Leise arbeitete er sich weiter zur Bugspitze vor und die Treppe hinauf, versuchte sich dabei so locker wie möglich zu bewegen. Falls man ihn von der Brücke aus sah, sollte man ihn für die Wache halten können. Als würde er es tagtäglich tun, begutachtete er die Verzurrung der Plane, die sich über der Kanone befand. Sekunden später teilte er die Abdeckung mit dem Geschütz.
Mit Hilfe der Taschenlampe untersuchte er die Abschussvorrichtung. Auf den ersten Blick boten sich kaum Angriffsstellen, durch deren Beschädigung er das robuste Gerät außer Betrieb setzen konnte. Es war auch nicht daran zu denken, die Vorrichtung durch ein paar gezielte Schläge mit der Zange unbrauchbar zu machen, ganz abgesehen von dem Lärm, den dies verursacht hätte. Mit etwas Sprengstoff hätte er vielleicht das Abschussrohr beschädigen können, doch woher nehmen? Wenn er die Kanonewirklich außer Gefecht setzen wollte, so war es das Beste, sie als Ganzes über Bord zu werfen. Er unterzog die Befestigung des Geräts einer genaueren Inspektion. Die Schrauben, die es auf dem Gerüst des Schiffes hielten, waren offenbar dem Typ Goliath zuzuordnen. Das würde dauern, denn ganze vierundzwanzig Stück saßen auf der Stahlplatte. David griff in den Rucksack und fischte eine mächtige Rohrzange heraus, das schwerste Utensil seiner Ausrüstung. Er setzte die Zange auf eine der Schrauben, passte ihre Größe an und musste den Zangenkopf auf die weiteste Einstellung drehen, um damit die Schraube zu umfassen. Die Länge der Zange bot eine gewisse Hebelwirkung, und es gelang ihm schließlich, die erste Schraube so weit aus ihrer Halterung zu drehen, dass er ihre letzten Windungen mit den Fingern erledigen konnte. Er schnippte sie unter der Plane hervor über Bord und schaute auf die Uhr: zweieinhalb Minuten. Er würde sich beeilen müssen. David setzte die Zange an die nächste Schraube. Sie ließ sich ebenfalls lösen, folgte ihrer Vorgängerin ins Wasser. David rechnete hoch: Wenn alles weiter so gut verlief, wäre er in einer Stunde fertig.
Doch die dritte Schraube weigerte sich beharrlich, sich auch nur einen Viertelmillimeter zu lockern. David stemmte sich mit aller Kraft, die seine gebückte Position zuließ, gegen die Zange, doch es war zwecklos. Er ließ von der Schraube ab, versuchte die nächste, die sich ebenfalls als äußerst wehrhaft erwies.
Eine knappe Stunde später war es David gelungen, fünfzehn Schrauben zu entfernen. Doch die verbleibenden neun hielten die Kanone nach wie vor in ihrer Position, zu allem Übel war es in spätestens dreißig Minuten hell. Wenn alles gutging, würde sich dann auch die »SeaSpirit« in Sichtweite befinden. Fieberhaft überlegte David, wie er die Kanone aus ihrer Halterung zwingen konnte, als ihm ein Detail von Govinds Schiffsplänen einfiel. Auf dem Vordeck musste sich eine Winde befinden. Erpackte seine Utensilien in den Rucksack und spähte unter der Plane hervor. Noch war es finster, auch wenn sich bereits ein heller Silberstreifen über den Horizont zu ziehen begann. Auf allen vieren kroch er zur Treppe, stieg hinab und tastete sich über das Deck. Tatsächlich befand sich vor ihm ein ebenfalls von einer Plane verdeckter großer Kasten. David sah sich wiederholt um, die Wache war nicht zu entdecken. Er hoffte, dass ihn selbst bei einem flüchtigen Blick des Wachhabenden die Jacke tarnen würde, aber was, wenn ihn jemand ansprach? Oder sein Gesicht sah? Er huschte unter die Plane. Hundert Punkte – es war die Winde. Ein dickes Drahtseil befand sich auf der Spule, mit einem Karabinerhaken am Ende – sie benutzten es, um Wale beizuholen.
Die einfachste Lösung bestand darin, die Winde anzuwerfen und das abrollende Seil am Haken nach oben zur Kanone zu schleppen. Ging aber nicht wegen des Lärms, den sie verursachen konnte. Also entschied er sich, von der Plane geschützt, das Seil zunächst mit der Hand abzuwickeln. Es würde umständlich werden, doch es war der einzig
Weitere Kostenlose Bücher