Lied der Wale
würde, also markierte er alle übrigen Dateien und sendete sie vorsichtshalber an seine eigene Internetadresse und die seiner Freunde in Bombay. Wie viel noch durchging, wusste er nicht, denn Joe und Marek zerrten ihn aus dem Computerraum. Während Govind gemeinsam mit den beiden in die Schlauchboote hüpfte, bangte sein Herz um jedes Megabyte, das bald in den Fluten verlorengehen würde. Mit all seinen persönlichen Sachen. Außer der Festplatte hatte er nichts mehr mitnehmen können.
Von den Zodiacs aus erkannten sie, dass die Kollision den Bug des Japaners nur leicht beschädigt hatte. Falls Govind jemals wieder eine Datenbank über Walfänger anlegen sollte, würde er unter dem Namen »Hikari« vermerken können: »Bug verstärkt.« Aber die Kanone waren sie vorerst los.
Er half Marek, aus den Thermoskannen, die er für den bis zur Haut durchnässten Masao in letzter Sekunde abgefüllt hatte, heißen Tee einzuschenken. Sie konnten stolz auf sich sein. Wenigstens ein Ziel hatten sie erreicht. Wenigstens hier und heute würde kein Wal mehr sterben.
Joe hatte, seit er mit siebzehn in die Armee eingetreten war, nur zwei Mal geweint. Das eine Mal in Vietnam, nachdem er einen Kameraden erschossen hatte, der jede Kontrolle über sein Handelnverloren hatte und dabei war, das Versteck des Platoons in die Luft zu sprengen. Und jetzt, als er das Krähennest der »SeaSpirit« im Meer versinken sah. Damals war die Army für ihn so was wie eine Familie. Doch sein Zuhause – sein wahres Zuhause – war dieses Schiff dort gewesen. Komisch, dass man Dinge oft erst dann richtig einzuschätzen lernte, nachdem man sie verloren hatte.
D er Kapitän der »Hikari« stand unter Schock. Er hatte geahnt, was die »SeaSpirit« vorhatte, und hatte es nicht mehr verhindern können. Seine Ausweichbefehle an den Rudergänger waren im frenetischen Gejohle der Mannschaft untergegangen. Wie jetzt das Schiff der Walschützer im Meer. Gemäß den internationalen Seenotkonventionen bot er den Schiffbrüchigen sofort an, sie an Bord zu nehmen, doch die lehnten ab.
Also beschloss er, in ihrer Nähe zu bleiben, zumindest bis die Ottawa eintreffen würde. Er stand an der Reling und blickte voller Respekt auf die Männer da unten, die ihrem untergehenden Schiff die letzte Ehre erwiesen.
Es wollte ihm nicht in den Kopf, dass diese Kerle bereit gewesen waren, ihr Leben für die Wale zu riskieren. Er war außerstande, es zu glauben, und konnte nicht anders, als zu grübeln, ob vielleicht, verdammt noch mal, doch mehr an diesen »Fischen« dran war, als er sich jemals eingestanden hatte.
Er wusste selbst nicht genau, wie ihm geschah, doch plötzlich schämte er sich. Für die Männer, die er befehligte, und für das, was sie unter seinem Kommando angerichtet hatten.
D er Kaffee bildete hässliche Flecken auf ihrer Hose, doch Leah spürte nicht mal, wie das heiße Getränk ihre Haut verbrühte.
Ihr Blick war rein zufällig auf den Flatscreen gefallen, als dieKellnerin die Kaffeetasse auf ihrem Tisch abstellte und Leah kurz aufblickte, um sich zu bedanken. Die Lady nickte und verschwand. Ihr freundliches Antlitz hatte wieder dem Bildschirm Platz gemacht. Sie achtete nicht auf die Worte des Sprechers, doch das Schiff, das dort zu sehen war, hätte sie unter Tausenden erkannt: die »SeaSpirit«. Sinkend. Sie war mit einem Schlag hellwach.
Im Flieger war sie vor Erschöpfung immer wieder in einen unruhigen Halbschlaf gefallen, hatte von David geträumt, von den Buckelwalen, von Noah, von der »SeaSpirit«, dazwischen von Michael und Geoffrey – sie hatte all ihre gegenwärtigen Sorgen und Bedenken auf die vierzehnstündige Reise verteilt. Als sie in Minneapolis aus dem Flugzeug stieg, fühlte sie sich, als ob sie die Zeit in einer Teigrührmaschine verbracht hätte. Jetzt saß sie in dem kleinen Café, wartete auf ihren Anschluss und war heimatloser als je zuvor.
Als das Bild der »SeaSpirit« ausgeblendet wurde, erschien Davids geschundenes Gesicht. Sie konnte durch das Stimmengewirr im Café nicht viel verstehen. Nur zwei Worte drangen an ihr Ohr.
»... lebensgefährlich verletzt.«
Leah war aufgesprungen, hatte den Kaffee umgestoßen und auf ihrem Schoß verteilt. Doch sie nahm es nicht wahr, sie rannte quer durch den Raum auf den Fernseher zu, starrte auf die Bilder, die wahrscheinlich Govind von der »SeaSpirit« aus aufgenommen hatte. David an Bord des Japaners, wie er versuchte, mit den zwei Matrosen zu reden, wie sie sich auf ihn
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