Lied der Wale
vorgehen würde, nur eines war klar: Das Gemetzel musste verhindert werden.
Eine Ewigkeit später drosselte Sam den Motor und steuerte das Boot neben Masaos.
»He, van Gogh, machst du ein Nickerchen, oder was?«
Masao deutete nach vorne. »Positionslichter. Die ›Hikari‹. Govind meint, die Wale sind auch ganz in der Nähe. Wenn diedas bis jetzt nicht rausgefunden haben, dann spätestens bei Tagesanbruch.«
»Bringen wir uns vor dem Schiff in Position?«, wollte Sam von David wissen. »Sie haben kaum Fahrt.«
David dachte an den kleinen Noah, der da draußen irgendwo mit seiner Mutter seine Runden zog, kaum mehr als sieben Monate alt, er dachte an die wunderbare Begegnung, die er und Leah mit ihm hatten, ja, er dachte auch an sie, die vermutlich schon im Flugzeug auf dem Weg nach Washington saß. Wie hätte er auch nicht an sie denken können.
»Nein. Das Spielchen kennen wir schon. Wir werden nicht zulassen, dass sich noch mal eine Harpune über unsere Köpfe hinweg in einen Wal bohrt.«
Masao schien es zu gefallen. »Also was machen wir? Entern?«
»Ich geh an Bord und schau mir mal ihre Kanone an.« David ergriff Rucksack und Walkie-Talkie.
»Die Dinger sind nicht aus Blech!«, gab Sam zu bedenken.
»Ich weiß. Aber diesmal wird es keinen toten Wal geben. Keinen einzigen. Fahr mich steuerbord, kurz hinter die Brücke.«
»Ich komm mit«, entgegnete Masao.
»Nein, zu zweit ist das Risiko doppelt so hoch, dass sie einen erwischen. Halt lieber die Leuchtraketen bereit, falls wir ein bisschen Ablenkung brauchen.«
Als sie sich der »Hikari« näherten, drosselten sie die Geschwindigkeit, um mit dem Lärm der Motoren nicht das Stampfen des Schiffs zu übertönen. Sam brachte das Boot längsseits in Position. Wie die meisten Walfangschiffe bot ihnen die »Hikari« den Vorteil, dass es an jeder Seite eine Stelle gab, an der das Deck nur knapp einen Meter über der Wasserlinie lag, dort, wo man die erlegten Wale nach ihrem Todeskampf hereinhievte. David konnte hier mühelos an Bord gelangen.
»Wünscht mir Glück«, sagte er, bevor er aufs Schiff wechselte.
»Alles Glück der Welt«, murmelte Sam, der Davids katzenhaften Umstieg mit skeptischem Blick verfolgte. Dann ließ er das Schlauchboot zurückfallen, damit niemand auf der »Hikari« den ungebetenen Gast schon wegen der Zodiacs entdeckte.
Die Schiffsbeleuchtung war spärlich, was David zum Vorteil gereichte. Seine Kleidung und sein Rucksack, beide dunkel gehalten, würden hier kaum auffallen. Das Schiff schien nicht im besten Zustand zu sein, überall ließ der Rost die graue Farbe abblättern. Er schlich in Richtung Bug. Wie ein Relikt aus einer anderen Zeit zeichnete sich die Kanone gespenstisch auf dessen Spitze ab. Im Gegensatz zum Deck lag sie knappe sieben Meter über der Wasserlinie auf einer Plattform, die man über eine Treppe erreichen konnte.
David schaute sich um: Die Brücke befand sich lediglich ein paar Schritte hinter ihm, er betete, dass ihn die Dunkelheit vor den Augen des Rudergängers schützen würde.
Gerade wollte er sich weiter vorwärts tasten, als er Schritte vernahm, die schnell lauter wurden. Offensichtlich kamen sie aus dem Treppenhaus im Deckaufbau. Hektisch sah sich David nach einem passenden Versteck um, entdeckte jedoch lediglich eine Nische, in die er sich schnell zwängte. Kein ausreichender Schutz, falls man seine Anwesenheit bereits entdeckt hatte und nach ihm suchte. Doch vielleicht handelte es sich auch nur um den Rundgang der Nachtwache. Keine Sekunde später trat eine Gestalt durch die Tür auf der Steuerbordseite unterhalb der Brücke.
David hielt den Atem an, konnte nur hoffen, dass ihn der Matrose in der Dunkelheit nicht bemerken würde. Als er nur noch drei Meter von ihm entfernt war, blieb er plötzlich stehen. Davids Muskeln spannten sich, sein Herz begann zu rasen, als er den Mann unter seine Jacke greifen sah. Für einen Moment fürchtete er, dass der andere eine Waffe hervorziehen könnte.
Stattdessen flammte Feuer auf. In seinem Schein erkannte David, wie sich der Japaner, ein korpulenter Kerl mit leicht wulstigem Gesicht, eine Zigarette anzündete und nach einem kräftigen Zug gemächlich seine Runde fortsetzte. David atmete aus, gab seinem Puls ein paar Sekunden Gelegenheit, sich wieder zu beruhigen, dann griff er zum Walkie-Talkie.
»Hier patrouilliert eine Wache. Haltet Abstand zum Schiff, damit sie euch nicht sehen«, flüsterte er.
Als er sich aus seinem Versteck herausschälte, prallte
Weitere Kostenlose Bücher