Lied der Wale
sichere Weg.
David schätzte die Entfernung zur Kanone auf zwanzig Meter, was wiederum bedeutete, dass er nicht mehr als zehn Wicklungen des Stahlseils benötigte. Bereits nach der Hälfte war David völlig durchgeschwitzt.
Als er unter der Plane hervorkroch, hatte sich der Streifen am Horizont bereits zu einem breiten Balken Tageslicht gewandelt, gegen den sich die Konturen eines Schiffes abhoben; konnte sich nur um die »SeaSpirit« handeln. Der Mann auf der Brücke hatte sie sicherlich schon am Radar entdeckt.
David flüsterte ins Walkie-Talkie: »Jetzt die Leuchtraketen. Und bleibt achtern, wenn in den nächsten fünf Minuten jemand zum Bug schaut, bin ich geliefert.« David sah sich nochmals um, dann zog er das Seil hinter sich her zum Bug und gab das Kommando: »Jetzt!«
H als über Kopf das Schiff zu verlassen war nicht gerade eine ihrer besten Eingebungen gewesen. David hatte sie überhaupt nicht darum gebeten. Sie war einfach nur feige gewesen. Das Horrorszenario, dem sie sich nicht aussetzen wollte, hatte sie sich selbst ausgemalt. Sicher, angenehm wäre es keineswegs gewesen, aber sie hätten es vielleicht gemeinsam bewältigen können. Ihre Liebe war so stark, dass sie mit alldem hätten fertigwerden können. Und die Auswirkungen des Unheils, das sie angerichtet hatte, konnten immer noch verhindert werden. Außerdem war ihr Motiv ja ganz plausibel. Wie hätte sie damals ahnen können, was sich zwischen ihr und David entwickeln würde? Sie war als Journalistin einem Verdacht nachgegangen, der sich zum Teil auch bestätigt hatte. David konnte ihr sogar dankbar sein, dass er endlich mitbekam, was Steve hinter seinem Rücken im Schilde führte. Warum also war sie geflüchtet? Eine spontane Reaktion. Etwas zu spontan. Jedenfalls die falsche.
Leah wollte zurück zu David. Auf der Stelle. Doch alles schien sich gegen sie gewendet zu haben.
Kaum war der Helikopter in Anchorage gelandet, versuchte Leah, einen anderen zu finden, der sie wieder zur »SeaSpirit« beförderte, doch ohne Erfolg. Morgen vielleicht, hieß es. Und wenn, dann erst am frühen Nachmittag. Sie hatte mehrmals das Schiff angerufen, bis Joe sich endlich meldete, aber er konnte oder wollte ihr die Koordinaten, unter denen die »SeaSpirit« morgen zu finden sein würde, nicht durchgeben, und auch David konnte oder wollte er nicht ans Telefon holen. Da Steve bereits in der Maschine nach Vancouver saß und der Pilot, der sie vom Schiff hergebracht hatte, ebenfalls wieder unterwegs war, konnte sie dem genervten Typen am Schalter nicht einmal ungefähr sagen, wo im Pazifischen Ozean sich David und seine Crew befanden.
Verzweifelt stellte sie sich trotzdem in die Schlange, um den Flug nach Washington zu canceln. Sie hegte den vagen Plan,morgen mit dem Helikopter wieder in Richtung Nordwesten zu starten, und wollte, wen auch immer sie per Funk auf der »SeaSpirit« erreichte, sie dann aus der Luft vor vollendete Tatsachen stellen. Sie wollte nichts unversucht lassen, um auf das Schiff zurückzukehren, und kein noch so triftiger Grund würde sie von diesem Wunsch abbringen können.
Dann fiel ihr doch einer ein, genauer gesagt zwei.
Denn allein schon wegen Michael wäre es nicht gegangen. Ihr Sohn wartete lange genug darauf, dass sie endlich wieder nach Hause kam.
Außerdem erinnerte die Dame direkt vor ihr in der Reihe Leah irgendwie an ihre Mutter, und sie entsann sich der Worte, die ihre Mom ihr während ihrer Kindheit eingetrichtert hatte: Wenn du dir etwas zu sehr wünschst, nimm Abstand und schau genau hin, ob du es dir wirklich wünschst – denn manchmal verändern sich die Dinge.
Und Abstand war nötig. Zeitlich wie auch räumlich. David hatte im Moment genug am Hals, sie wäre ihm nur zur Last gefallen. Er hatte sie zwar nicht gebeten zu gehen, aber zu bleiben genauso wenig.
»Ist mir egal, Fenster, Gang, was auch immer Sie haben«, antwortete sie der netten Bodenstewardess von Northwest Airlines.
V on einem lauten Knall begleitet, zog sich eine rote Leuchtspur über den dämmernden Morgenhimmel, gefolgt von einer zweiten und einer dritten. Sogar der Rudergänger verließ seinen Platz auf der Brücke, um nachzuschauen, was sich hinter der »Hikari« abspielte. Das war der Augenblick, auf den David gewartet hatte. So schnell er konnte, stürzte er die Treppe hinauf, quälte sich dabei mit dem Stahlseil ab, das sich seinem Willen widersetzte. Das verfluchte Teil wog eine ganze Menge, und der Aufstieg fielihm von Sprosse zu Sprosse
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