Lied der Wale
Masao ihm die Schuld am tragischen Tod seiner Mutter gab, die seine zahlreichen Affären nicht mehr ertrug. Und warum Masao die Eliteschule, die ihm von seinem Vater aufgezwungen worden war, vor dem Examen abgebrochen hatte. Und wieso er von zu Hause weggelaufen war, und wie David ihm geholfen hatte, von seinem Drogenproblem wieder runterzukommen. Und wer dieser Vater war – kein anderer als Kazuki.
Außer David und Joe hatte keiner eine Ahnung, dass Masao sein Sohn war, nicht einmal Steve, der sonst über alles, was auf dem Schiff vor sich ging, Bescheid wusste.
Als er noch in Tokio studierte, gehörte Masao einer grünen Studentenbewegung an, die gegen die ökologischen Sünden des Establishments auf die Straße zog. Sein Vater war damals der zweite FishGoods-Vize und hatte angeblich mit Walfleischverarbeitung nichts zu tun. Aber als Masao, um an Geld für ein paar Gramm Hasch zu kommen, eines Nachts seine Anzüge durchstöberte, fand er ein Memo, das das Gegenteil andeutete. Dummerweise wurde sein Vater wach, rief die Polizei und ließ ihn für vier Tage, bis zum Shogatsu, dem großen Neujahrsfest, einsperren. Dann holte er ihn wieder raus und demütigte den missratenen Sohn vor der versammelten Familie und dem Bekanntenkreis, indem er ihn als Junkie, Dieb und Kommunistenpennerbezeichnete. Masao hatte sich einen dicken Joint angezündet, seinem Vater den Rauch ins Gesicht geblasen und war für immer verschwunden.
Die Nacht verbrachte Masao in Michaels leerem Zimmer, Joe auf der Couch. Leah bot ihnen an, länger zu bleiben, doch die beiden hatten vor, so lange im New Yorker Hafen zu jobben, bis David sich entschieden hatte, was aus ihrer gemeinsamen Zukunft werden sollte. Wohnen würden sie bei Joes jüngerer Schwester in Newark. Leah bestand darauf, ihnen ein Überbrückungsgeld zu geben, und fuhr sie gemeinsam mit David zur Greyhound-Busstation.
S ie hätte die Zeichen früher erkennen können. Doch manchmal will man Zeichen nicht erkennen, auch wenn sie so groß und deutlich vor einem stehen wie ein Stoppschild. Leah machte ihre Dehnübungen vor der Bank, auf die David sich gesetzt hatte. Nach nur sechs Kilometern. Sie runzelte die Stirn. Neun Kilometer waren es vorgestern gewesen, acht gestern. Und nach dem Duschen war David gleich wieder eingeschlafen. Zumindest hatte er sie das glauben machen wollen.
»Ich krieg keine Luft mehr.«
Einen kurzen Augenblick ergriff Leah die Panik. Doch nichts deutete darauf hin, dass David unter Atemnot litt. Er atmete tief und regelmäßig, und sie ließ sich neben ihm auf die Bank gleiten.
»Was ist los, David?«
Er sah sie an. Und sie erkannte den Schmerz in seinen Augen.
»Ich hab mich gestern an deinen Rechner gesetzt. War auf unserer Homepage – nein, auf der Homepage der SeaSpirit-Bewegung.« Er konnte die Bitterkeit nicht verbergen.
Also doch, dachte Leah. Und spürte, wie wenig es sie erstaunte. Zwei Wochen lag Joes Besuch nun zurück. Die ersten Tagenach ihrem Zusammentreffen hatte David meistens schweigend verbracht, in sich gekehrt, und Leah hatte bereits befürchtet, die Höhle, in der er sich verschanzt hatte, würde bald endgültig von einem dicken Felsen verschlossen. Am dritten Tag schien er sich wieder gefangen zu haben. Er weckte sie am Morgen mit einem sanften Kuss. Und wenn er lächelte, war sein Blick nicht mehr von Schatten getrübt. David schien sich damit abgefunden zu haben, dass er, wenn er wieder gesund wäre, etwas Neues beginnen müsste, was auch immer das sein mochte.
Sie konnte nicht umhin, ihm Vorschläge zu unterbreiten: Vielleicht war an Steves Idee ja doch etwas dran, nämlich die Möglichkeit, über das Internet von jedem beliebigen Punkt der Erde aus eine Organisation aufzubauen? Ohne es David zu sagen, hatte sie von der Redaktion aus ihre Kontakte spielen lassen. Es standen David auch in Washington die Türen offen. In diversen politischen Gremien hätte er als Umweltexperte jederzeit einen Job bekommen können. Sie hatte das Thema noch nicht angesprochen, sondern lieber warten wollen, bis er sich selbst zu seinen Zukunftsplänen äußerte.
»Eins muss man Steve lassen, wen auch immer er sich für die EDV gesucht hat, die haben das Konzept ratzfatz umgesetzt. Man kann schon Patenschaften übernehmen.«
»Sagte Joe nicht, dass sie auf markierte Wale keinen Zugriff haben?«
David nickte.
»Hab mich auch gewundert. Aber ich wollte wissen, wo Noah ist.«
Nicht, dass Leah nicht auch oft an das Walbaby gedacht hatte, doch seinen
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