Lied der Wale
Komplizen waren auch da und schienen das Ganze ziemlich locker zu nehmen, was Leah weniger toll fand. Als sie jedoch vorschlugen, Michael schon morgen Nachmittag abzuholen, um mit ihm nach Lake George aufzubrechen, wäre sie ihnen am liebsten um den Hals gefallen.
Trotzdem wollte sie ihren Sohn nicht so leicht davonkommen lassen und beschloss, ihm die Leviten zu lesen, sobald sie allein im Wagen säßen. Was allerdings nicht die beste Voraussetzung wäre für das, was sie ihm auf der 180 Meilen langen Strecke mitzuteilen hatte. Also entschied sie sich für eine neue Variante. Es war die feigste. Da Michael David nur knappe vierundzwanzig Stunden zu sehen bekam, war eine Notlüge total in Ordnung. Auf Michaels Frage, ob David der Typ sei, mit dem sie jeden Abend stundenlang telefonierte, hatte sie ihm nochmals von der »SeaSpirit« erzählt und auch Bilder hervorgekramt, die sie in weiser Voraussicht dabeihatte.
»Ein guter Freund, Michael, hier, ich hab dir ein paar Bilder mitgebracht, das Schiff ist leider gesunken.«
»Das ist der Typ, der mit den Walen badet?«
»Taucht, Michael. Er versucht sie zu retten.«
»Von unserer Wohnung aus?!«
Sie kannte den Tonfall ihres Sohnes, wenn er die Schotten dicht machte und auf stur schaltete.
»Michael. Er ist krank. Sie haben ihn zusammengeschlagen, er lag drei Wochen im Krankenhaus.«
»Warum geht er dann nicht in seine Wohnung, wenn er krank ist?«
»Weil dort niemand ist, der sich um ihn kümmert.«
»Wird er auch bei uns schlafen?«
»Natürlich wird er bei uns schlafen, er kann schlecht jeden Abend nach L. A. fliegen.«
»Schläft er auf der Couch?«
»Wo denn sonst?!«
»Und wann ist er wieder gesund?«
»Ich weiß es nicht. Ich dachte übrigens, wenn du von Lake George zurückkommst, holen wir uns den Beagle, hmm? Was hältst du davon?«
Ihr Sohn sah sie an und schwieg.
Als sie die Wohnung betraten, hoffte sie, David nicht im Schlafzimmer zu finden; sie hatte sich nicht getraut, es vorher mit ihm abzusprechen. Doch als ob er ihre Gedanken lesen konnte, hatte er die Couch schon bezogen und sogar das Essen vorbereitet. Er reichte Michael die Hand, die dieser jedoch demonstrativ nicht ergriff.
Bevor Leah Michael zurechtweisen konnte, fragte der wenig freundlich: »Wie lange bleibst du hier?«
»He, junger Mann, ist das eine Begrüßung?« Leah spürte, wie sich zur Nervosität, die sie bis eben noch im Griff hatte, eine reichliche Portion Wut gesellte.
»Wenn du nichts dagegen hast«, antwortete David schmunzelnd, »bis ich wieder fit bin.«
»Und wie lange dauert das?«
»Deine Mutter hat mir gesagt, dass du auch mal ein Bein gebrochen hattest. Wie lange hat’s gedauert, bis du wieder fit warst, nachdem der Gips ab war?«
»Weiß nicht. Drei Wochen.«
David nickte. »O. k. Bei mir war’s der Kopf, und da ich ein wenig älter bin als du, brauch ich vielleicht ein bisschen länger.«
»Und dann gehst du wieder?«
»Aber ja. Dann geh ich wieder.«
Michaels Blick wanderte verunsichert von David zu Leah. Dann verschwand der Junge ohne ein weiteres Wort in seinem Zimmer. Leah wollte ihm hinterhergehen, doch David hielt sie sanft zurück.
»Nein. Lass ihm Zeit, Leah.«
Das Abendessen war das zweite in den letzten Tagen, von dem sie nichts hinunterbekam. Nachdem Michael sich schlafen gelegt hatte, schlich sie auf Zehenspitzen hinaus und wollte David zu sich holen, doch er fand das zu riskant. Was, wenn der Kleine mitten in der Nacht aufs Klo müsste? Sie ließ dennoch nicht locker und zerrte David in ihr Schlafzimmer, wo sie versuchten, sich so leise wie möglich zu lieben, aber das Bett knarrte trotzdem, also vertagten sie es auf morgen. David ging zurück auf seine Couch, und Leah lag noch stundenlang wach im Bett und sinnierte über eine Zukunft, die sich hoffentlich nicht als Luftschloss entpuppen würde.
Als sie am nächsten Morgen aufwachte, fand sie einen Zettel unter ihrer Tür, auf dem David ihr mitteilte, dass er am besten bis Michaels Abfahrt wegbleibe, unnötig, den Kleinen so durcheinanderzubringen. Der »Kleine« war allerdings clever genug, um sie gleich nach dem Frühstück zur Zoohandlung zu schleppen, wo sie den Beagle im Voraus zahlte.
L eah und David hatten sich dem Spiel ihrer Körper völlig hingegeben, als neben dem Bett das Telefon klingelte. Obwohl es leise gestellt war, jagte ihr das Geräusch einen Schrecken ein.
»Hoffentlich hat Michael nicht wieder was angezündet. Wer ruft so spät noch an?«
Nein, sie wollte
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