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Lied für eine geliebte Frau

Lied für eine geliebte Frau

Titel: Lied für eine geliebte Frau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Erik Orsenna
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– und modernerer – Telefonanrufe, Internet – eine Liste reizender Personen zusammen, die ihren Kriterien genügten. Eine nach der anderen luden sie diese Personen zu sich ein, wobei sie sorgfältig darauf achteten, dass die Frauen nicht merkten, welche Absicht hinter diesen gesellschaftlichen Ereignissen stand.
    Und schließlich, nachdem sie ein ganzes Jahr daran gearbeitet und die Auswahl getroffen hatten, erhielt der Witwer einen Telefonanruf:
    Â«Wir erwarten dich am 18. Januar.»
    Es gab keine Ausflucht, sie hatten sofort wieder aufgelegt.
    Der Witwer kam also am angegebenen Tag, er war etwas zu früh dran.
    Als mit einer kleinen Verspätung die Auserwählte eintraf, verstand er plötzlich nichts mehr vom Geplauder der anderen Gäste, die nur eingeladen worden waren, um die Spuren zu verwischen. Allzu laut ertönte eine Stimme in ihm, die er nicht wiedererkannte und die dennoch nur die seine sein konnte. Und diese Stimme wiederholte: «Wenn sie mich will, dann ist sie es.»

 
    Â 
    Es war unser erster Aufenthalt allein auf dem Land. Es war die erste Nacht, die wir gemeinsam anbrechen sahen. Es waren die Stunden, die wir in dem leeren Haus verbrachten. Wer wagt es, den anderen zu fragen: Kommen Sie, kommst du? Es waren die ersten zaghaften Versuche, die Lampe, die Hände, die sich im Dunklen suchten, die ein anderes Stück Körper fanden und sich erschrocken zurückzogen, und man brauchte vielleicht eine Stunde, um wieder so kühn zu sein. Es waren Kindheitserinnerungen, bei denen wir Zuflucht suchten.
    Â«Wussten Sie, dass ich die ersten zwölf Jahre meines Lebens in Afrika verbracht habe?»
    Â«Wir haben die ganze Zeit am Wasser gespielt, im Sand und zwischen den Felsen herumgewühlt.»
    Es waren die ersten Blicke in das eigene kleine Universum, die man dem anderen gewährte. Die ersten Male, bei denen man in einem fort redete, um die Angst zu verlieren.
    Â«Morgen werden Sie sehen, ich werde es Ihnen zeigen, wir brechen auf zu einer Erkundung. Seien Sie nachsichtig. Ich weiß nicht, ob ich mich noch erinnere.»
    Â«Erkundung? Was wollen Sie damit sagen?»
    Â«Oh, Entschuldigung, es geht um Botanik. So nennt man die Spaziergänge, auf denen man versucht, alle Pflanzen zu bestimmen, die man findet.»
    Â«Dann auf zur Erkundung!»
    Es war das erste Mal, dass wir Seite an Seite schliefen. Mit offenen Augen, ohne etwas zu sehen, nur um zu spüren,zu hören, dass jemand bei einem ist. Es war das erste Licht, das wir bei Tagesanbruch gemeinsam gesehen haben.
    War es möglich, dass das Leben von Neuem beginnt?

 
    Â 
    Der ältere Bruder ging wieder einmal zum Augenarzt.
    Â«Und, wie ist es?»
    Â«Ihre Gegenwart lässt nach; infolgedessen ist das sonstige Leben wieder besser zu sehen.»
    Â«Das Ziel ist also erreicht.»
    Der ältere Bruder schwieg. Die Wände der Praxis waren mit italienischen Landschaften tapeziert. Bestimmt, um den am grauen Star operierten Patienten eine erste Freude zu bereiten, wenn man ihnen den Verband abnahm und sie wieder sahen. Der Arzt lächelte. Normalerweise verhält es sich mit einem Lächeln wie mit einem Moment oder dem Ton aus einer Melodie: Sie gehen vorüber. Niemand käme auf die Idee, sich an ihnen festzuhalten. Das Lächeln des Arztes blieb, es war wie eine Hand, die er mir reichte.
    Â«Manchmal bedauert man es, von einer Krankheit geheilt zu sein.»
    Â«Heilen Sie auch das Bedauern?»
    Â«Das wäre ja noch schöner.»
    Das Lächeln war immer noch da.
    Â«Sie sind nicht der Einzige, glauben Sie mir. Die Krankheit ist jemand, der bei Ihnen ist. Die meisten Geheilten sind Waisen.»

 
    Â 
    Gelobt seien die Umstände!
    Hätten sie nicht liebenswürdig und aktiv mitgespielt, hätte dieser neue Antrittsbesuch in allen Punkten den vorausgegangenen geglichen, samt den hinlänglich bekannten Nachwirkungen. Der jüngere Bruder beachtet die Neue nicht, der ältere ist zuerst erbost über diese Missachtung, doch dann beginnen sehr schnell bei ihm die Alarmglocken zu klingeln: Wenn mein Bruder, der mir zugetan ist, meine Begeisterung nicht teilt, dann muss ich mich wohl einmal mehr geirrt haben.
    Und schon ist der Wurm drin.
    Der ältere Bruder sieht die Frau, die er mitgebracht hat, nicht mehr mit denselben Augen an. Nichts auf Erden ist zerbrechlicher als ein gerade erst entstehendes Gefühl … Was hätte es gegen die

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