Lied für eine geliebte Frau
lebendigen Menschen, und wie lebendig sie war, in die Tiefen der französischen Sprache greifen und diese Zeitform hervorholen sehen: die vollendete Zukunft.
Eine merkwürdige Zeit. Wie kann etwas vollendet sein, was noch nicht stattgefunden hat, wie kommen Zukunft und Vorzeitigkeit, Künftiges und Vergangenes zusammen?
Ich lernte, mich nicht mehr zu wundern. Denn während unseres ganzen gemeinsamen Lebens hat meine Frau nie aufgehört, in der vollendeten Zukunft zu sprechen. Armer Schatz! Sie muss sich bedroht gefühlt haben. Die Verwendung dieser Zeit war für sie eine Art, das Schicksal zu beschwören. So nahm sie auf fast jeder gemeinsamenReise beim Rückflug meine Hand mit den Worten: «Zumindest werden wir Ãgypten gesehen haben» oder «Sag mir, was werden wir an Indien zu guter Letzt am meisten geschätzt haben?» Diese vollendete Zukunft zog Bilanz, schaffte Sicherheit, Reichtümer, die wir für immer heimgebracht hatten und die uns nie mehr jemand wegnehmen konnte.
Es war drei Jahre nach dem Begräbnis. Ihre Mutter und ich hatten gemeinsam gegen die Krankheit gekämpft. Sie tagsüber, ich nachts. Seit der Niederlage hatten wir uns nicht mehr getroffen. Und jetzt sah sie mich in einem Café am Montparnasse weinen. Sie war gekommen, um sich bei mir Rat wegen eines Buchs über Sagen zu holen. Ihr ganzes Leben hatte sie ratlosen Kindern Sagen aus der griechischen Mythologie erzählt.
Und jetzt saà ich da und weinte.
Sie legte ihre Hand auf meine.
«So ⦠werden Sie sie geliebt haben.»
Was glaubte sie eigentlich? Dass ihre Tochter nur bei mir vorbeigekommen war? Eine kurze Episode, die schon wieder vorbei gewesen war, kaum dass sie angefangen hatte?
Ein strahlendes Lächeln leuchtete auf ihrem Gesicht. Wenigstens machten meine Tränen jemandem eine Freude. Sie stammelte «Danke» und eilte davon wie jemand, der nichts von einer plötzlichen Freude verpassen will. Der darüber nachdenken und sie in Einsamkeit auskosten will.
Ich weiÃ, man soll niemals nie sagen, und ich misstraue mir. So wie ich mich kenne, könnte es durchaus sein, dass ich später einmal urplötzlich die Fährte wieder aufnehme und noch einmal versuche, sie wiederzufinden.
Doch bis auf den heutigen Tag war die vollendete Zukunft meine letzte Forschungsreise.
Ich trommelte meine Grammatik-Freundinnen zusammen, Danièle Leeman, ihres Zeichens Professorin, und ihre beiden Schülerinnen Carine Marret und Valelia Muni-Toke. Sie wunderten sich gar nicht. So sollte man übrigens seine Freunde erziehen: sie daran gewöhnen, dass sie sich nie über die Fragen wundern, die man ihnen stellt. Und für einen selbst gilt: alles tun, um seine Freunde weiterhin in Erstaunen zu versetzen.
Neben anderen Geschenken, die sie mir gemacht haben, verdanke ich ihnen, dass sie mich auf diese einleuchtenden Bemerkungen Paul RicÅurs aufmerksam gemacht haben:
An der Wurzel des Gefühls, das ich empfinde, ist das Vermächtnis. Ich bin nicht von gestern. Ich komme in eine Welt, die schon vieles versucht hat, und ich bin sehr erstaunt, dass die groÃen Epochen wie das Mittelalter, die Renaissance, die Reformation, die Aufklärung, der Nationalismus und der Sozialismus des 19. Jahrhunderts etwas wollten, und dass keine Finalität bis zu ihrem Ende geführt wurde. Im Verzeichnis der Vermächtnisse steht also nicht nur das, was ich zurückweise, sondern auch das, was mir anvertraut ist: die Zukunft der Erinnerung. Deshalb widersetze ich mich mit aller Kraft den ultranegativen Urteilen über unsere Zeit, nach denen es heute angeblich wederAnhaltspunkte noch Werte mehr gibt. Wir in Europa sind gescheiterte Erben. Und ich persönlich fühle mich ebenso als Verwalter des jüdisch-christlichen Erbes wie des Erbes der Renaissance, der Reformation, der Aufklärung, der Nationen und Revolutionen des 19. Jahrhunderts.
In diesem Sinn ist die Zukunft eine Wiederaufnahme der vollendeten Zukunft. In der Analyse, der ich das Gedächtnis unterziehe, gibt es immer ein Versprechen vor dem Versprechen: ein Versprechen, das andere mir gegeben haben und für das ich im Gegenzug verspreche, Wort zu halten. Das Versprechen ist also kein punktueller Akt. Es hat seine Geschichte. Und man kann es insofern als etwas Zukünftiges betrachten, als es zugleich ein Rückgriff auf eine Dimension der Vergangenheit ist. Das Versprechen ist nicht nur auf die
Weitere Kostenlose Bücher