Lied für eine geliebte Frau
Zukunft gerichtet, es war die Zukunft der Vergangenheit. Das habe ich kürzlich die vollendete Zukunft genannt.
«Versprechen.» «Versprechen», wiederholte ich wie ein Kind, das sich an einem neuen Wort freut und nicht aufhört, es zu wiederholen. Ein Versprechen. Kann man in einem Versprechen wohnen? Ist ein Versprechen ein Land?
Ja, aller Wahrscheinlichkeit nach hatte sich meine Frau mit Sack und Pack im Königreich des Versprechens niedergelassen.
Ja, sie übergab mir den Stab, um mit Paul RicÅur zu sprechen: Jetzt lag es an mir, das Versprechen zu halten, das ihr kurzes Leben gewesen war.
Ja, sie war nicht nur ins Unsichtbare verschwunden (eine schlichte materielle Feststellung), sie war zum Versprechen geworden.
Und auf dieselbe Weise, wie in meiner guten alten
tenseless theory of time
Raum und Zeit dieselbe Beschaffenheit hatten, schien mir, als gäbe es im Grunde keinen Unterschied zwischen Antworten und Fragen: In den einen lag ebenso viel, exakt genauso viel Ungewissheit wie in den anderen Sicherheit.
Und so kehrte, dank Paul RicÅur, Ruhe in mein Leben ein. Die Trauer verschwand nicht, aber statt auf meinen Kopf zu drücken wie ein schwarzer Deckel, wie ein Grabstein, hat sie sich in der Luft aufgelöst.
Und sie, meine Frau, hat mit diesem unerträglichen Schmollen aufgehört, das ihre Abwesenheit bedeutete. Diese Veränderung hat unsere Beziehungen stark verbessert. Wie wollen Sie mit einer Schmollenden ins Gespräch kommen? Mit einem Versprechen dagegen können Sie endlos Gespräche führen.
Viele unter meinen Freunden denken, ich sei verrückt. Denn ich spreche in jedem Augenblick mit meiner Frau. Stellen Sie sich jemanden vor, der ein Zimmer betritt. Er sieht, wie ich meine Lippen bewege, wie ich gestikuliere, um meinen Argumenten Nachdruck zu verleihen. Er macht schnell die Tür wieder zu und hat es eilig, die anderen zu warnen: Nun sagt mal, das geht doch nicht, wir müssen etwas tun, unser Freund verliert den Verstand!
Irrtum: Nie war meine geistige Gesundheit so blühend.
Bei einer dieser Unterredungen mit der Sonne erzählte ich ihr von meiner Begegnung mit I.
Sie bat mich um eine vollständige und vor allem unnachsichtige Beschreibung («Ich kenne deine anfängliche Begeisterung und deine Blindheit!»).
Ich errötete und gehorchte.
Sie hat genickt â «ich kenne den Typ Frau» â und mir zwei sehr präzise technische Tipps ins Ohr geflüstert. Wenn ich sie befolgte, würde ich sechs Monate an Liebesleben gewinnen.
Â
Â
Je nach Wertschätzung, die man ihm entgegenbrachte, gingen die Meinungen über die Trauer, die Traurigkeit des groÃen Bruders, weit auseinander.
Seine Feinde, von welchem Messinstrument auch immer auf dem Laufenden gehalten, bemängelten seine Trauer als ungenügend und entrüsteten sich darüber: Sie sahen sich darin bestätigt, dass diese Person die Verstorbene ganz eindeutig nicht geliebt hatte; wie auch, da er doch von Natur so herzlos war; und ich kann Ihnen eines sagen: Er hat sie immer betrogen. Tatsächlich? Ja. Auch als sie krank war? Zu der Zeit besonders.
Bei diesem gehässigen Spielchen nahm es niemand mit einer Tunesierin auf. Bei jedem Treffen drückte sie mich an ihre Brust wie ein gutes Stück Brot. Und unablässig kolportierte sie solche Schauergeschichten. Boshaftigkeit ist eine Art der Faulheit. Sie hat mich immer geärgert.
Meine Freunde dagegen wussten, welche Untröstlichkeit sich hinter dem fortdauernden Lächeln verbarg. Ihre Messlatte für die Traurigkeit war gerade dieses unermüdliche Lächeln. Je breiter es wurde, desto mehr fröstelten sie: Sie hatten bemerkt, dass ein neuer Schlag ihren Freund niederstreckte. Sie kannten ihn lange genug, um sich von diesem Lächeln nicht hinters Licht führen zu lassen. In der Regel gibt die GröÃe des Paravents einen getreulichen Hinweis auf das Ausmaà und die Gefahr der Dinge, die man verbergen will.
Ich weiÃ, dass meine Freunde eine Generalversammlungeinberufen hatten, auf der Tagesordnung stand ein einziger Punkt: Wie kann man ihm helfen?
Alle Vorschläge wurden in einem groÃen Heft festgehalten und mit den Vornamen derer versehen, die für die Umsetzung zuständig waren.
Spannende Kolloquien über die Globalisierung (das gibt es): Jean-Hervé, Catherine.
Feinschmeckereskapaden an der Küste von Toulon: Frédérique, Michel.
Besuch
Weitere Kostenlose Bücher