Lied für eine geliebte Frau
Gedanken: Ein dicker Roman war das einzige Mittel, um mich zumindest vorübergehend von meiner Krankheit zu heilen. Ich begriff es nicht sofort. Wie so oft musste sie es mir erklären:
«Ãberleg doch mal! Was ist denn ein dicker Roman? Stell dich nicht dumm! Ein dicker Roman ist ein Chanson, das immer weitergeht. Wenn du deinen dicken Roman zu Ende geschrieben hast, wirst du weggehen. Falls es dich interessiert, ich hätte ein paar Einfälle für weitere Kapitel.»
Ich war dumm genug, mich nicht für ihre Pläne für neue Kapitel zu interessieren. Kaum war das Ungetüm fertiggestellt (1300 Seiten in der ersten Fassung), machte ich mich wieder auf die Wanderschaft.
Meine beiden Schutzengel rieten mir entschlossen, die Behandlung zu wiederholen.
«Stürz dich in eine endlose Geschichte, Papa!»
«An Themen habe ich keinen Mangel. Aber ich weià nicht. Afrika, die groÃen Entdeckungsreisen â¦Â»
«Du wirst sehen, es wird dir guttun.»
Solange ich auf den zündenden Einfall für den ersten Satz wartete, der das Schiff in Fahrt bringen würde, nahmen sie meine CDs unter Verschluss. Tschüss, Etienne Daho, Christophe, Alain Souchon, Bashung, Françoise Hardy. Nur noch «klassische» Musik war mir erlaubt.
Und als ich protestierte, kam postwendend zurück:
«Es ist nur zu deinem Besten, Papa. Das weiÃt du genau.»
Als ich ihnen die Ankunft einer Sonne mitteilte, sahen sie mich nur niedergeschlagen an. Sie drohten mir mit dem Schlimmsten: mich zu verlassen.
Und dann hat die Sonne sie vom ersten Augenblick an betört. Wie hätte man auch dem Lachen dieser Sonne widerstehen können? Einer Sonne, die an jenem Tag, ich erinnere mich genau, ein spitzes Zwergenhütchen trug und eine DVD von Carolyn Carlson schwenkte.
Der ältere Bruder sah keine Notwendigkeit, sie dem jüngeren vorzustellen. Weil eine Sonne eben eine Sonne ist. Wer eine Sonne kennenlernt, braucht niemanden, und sei er auch ein Kenner der Seele, der ihm bestätigt, dass seine Sonne eine Sonne ist.
Vielleicht lag es auch daran, dass diese Sonne zerbrechlich war? In bestimmten Augenblicken fiel sie ohne Vorwarnung in sich zusammen und erlosch. Man nannte solche Augenblicke «epileptische Anfälle». Doch wozu waren diese lähmenden Wörter gut, wenn die Sonne bald darauf wieder aufflackerte und hell und warm strahlte wie zuvor? Der ältere Bruder musste befürchten, dass der bohrende Blick seines kleinen Bruders dieser zarten Sonne nicht zuträglich war.
AuÃerdem hatte der Jüngere behutsam durchblicken lassen, dass er die halbjährlichen Vorführungen nicht mehr ertrug. Er forderte eine Pause oder eine entschiedenere Auswahl. Er wollte nur noch über die Liebesverhältnisse informiert werden, die über einen bestimmten Zeitraum, sagen wir ein Jahr, erprobt waren.
Aber der letzte und wichtigste, der wesentliche Grund für den Verzicht auf eine Vorstellung war auch zugleich der geheimste: Der ältere Bruder muss geahnt haben, obwohl er kein Spezialist für die Seele war, welches Dramafolgen würde, und er wollte es seinem Bruder ersparen, den die kleinste Erkrankung, selbst eine Erkältung, in Panik versetzte.
Die Sonne wurde also Mitglied der Familie. Sie kam wehrlos und hatte nichts im Gepäck als ein achtjähriges Mädchen: Louise. Louise sah sich den Mann an, der ihre Mutter liebte, kniff die Augen zusammen, lächelte und beschloss, seine Freundin zu werden. Für immer.
Eines Tages waren die Sonne und ihre Tochter an Weihnachten da. Man begrüÃte sie höflich. Man musterte sie aus den Augenwinkeln. Man fragte sich mehr oder weniger verstohlen, wie lange diese Sonne wohl strahlen würde.
Sie strahlte vier Jahre.
Eines Morgens â ich mochte schon damals die Vormittage nicht â schob ein Fachmann für schlechte Nachrichten in der Nähe des Boulevard périphérique der Sonne einen Spiegel in den Mund, genau hinter die beiden blauen Augen, und entdeckte dort einen verdächtigen Fleck.
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Jene vier Jahre haben keine Geschichte. Vielleicht, weil das erfüllte Leben keinen Raum für Worte lässt. Und erst recht nicht für die Art von Andeutungen, wie es Erinnerungen sind.
Jene vier Jahre gleichen gewissen Nächten, den besten von unseren Nächten. Wir gehen ins Bett und schlafen ein, und einen Augenblick später wachen wir wieder auf. Wer glaubt schon, dass dieser
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