Lied ohne Worte: Roman (German Edition)
konnte.
III
Nach zwei Tagen ermüdender Fahrt kam der Zug schließlich in Simferopol an. Es war bereits Nacht, die Droschke glitt leise über die dunklen Straßen der unbekannten Stadt dahin, die im Licht des Mondes ganz aus weißem Stein zu sein schien. Nichts war zu erkennen, und Sascha war so müde, dass sie froh war, sich im geräumigen Zimmer des Gasthofs niederlassen zu können, in dem hinter einem Paravent aus Holz ein Bett stand, ein Waschtisch, ordentlich angeordnet eine Gruppe aus Diwan und Sesseln – alles ganz so wie in allen Gasthöfen der russischen Provinz.
Als sich die Tür hinter Sascha schloss und sie spürte, dass sie allein war, wurde ihr so schrecklich zumute, dass sie laut nach dem Zimmerkellner rief.«Bringen Sie mir etwas Tee und den Fahrplan der Postkutschen nach Jalta.»
«Die Postkutsche fährt um sieben Uhr», erklärte ihr der Bedienstete, während er mit einem schmutzigen Handtuch die Krümel vom Tisch fegte.
Sascha holte ihr Buch hervor und begann zu lesen. Doch sie war unfähig zu begreifen, was sie las. Ta-tam-ta – in ihr erklang wieder jene unbekannte, doch prachtvolle Melodie.
«Ach Mama, vielleicht bist du ja schon nicht mehr! Mein Gott, lass mich noch einmal in ihre großen, ernsten Augen sehen, die mich so oft liebevoll und nachsichtig anblickten, wie es nur die Mutter tut!»
Sascha schlief kaum in dieser Nacht, sie fürchtete, die Abfahrt der Kutsche zu versäumen. Gegen sieben Uhr am nächsten Morgen trat sie, nachdem sie ihre Sachen gepackt hatte, aus dem Gasthof. Es war frisch und klar. Die Kutsche war bereits angespannt und stand vor dem Eingang. Ein Deutscher sprach in gebrochenem Russisch mit dem Kondukteur und fragte nach seinem Gepäck. Ein junger Kadett rauchte großtuerisch seine Papirossa und fröstelte unausgeschlafen in der Morgenfrische. Es kamen noch zwei weitere Herren, keine Damen, was Sascha verunsicherte. Der Deutsche war Sascha beim Einsteigen in die Kutsche behilflich und nahm dann neben ihr Platz; angelegentlich betrachtete er sie; sie drängte sich ganz in die Ecke und begann vor sich hin zu träumen. Doch plötzlich belebte sich ihre Miene.
«Oh, wie wunderschön!», entfuhr es ihr unwillkürlich.«Die Berggipfel über den Wolken!»
«Die Dame reist zum ersten Mal?», 8 fragte lächelnd der Deutsche.
«Ja», antwortete Sascha einsilbig, ohne ihren Blick von den sonnigen Gipfeln abzuwenden. Sie bewunderte die kleinen Wolken, die leicht und luftig an den Berghängen standen. Der Deutsche sah Sascha einfühlsam und wohlwollend an, wie man ein Kind ansieht. Bald entspann sich ein Gespräch: Der Deutsche war Apotheker; der Kadett reiste nach Jalta zu seiner Mutter, denn in seinem Korps war die Diphtherie ausgebrochen, und man hatte alle Zöglinge nach Hause geschickt. Sascha fühlte sich nicht mehr so allein; man stand ihr bei, und der Kadett plauderte derart heiter, dass er Sascha mit seinem Frohsinn ansteckte.
«Halt!»Die Postkutsche kam plötzlich zum Stehen. Der Kondukteur sprang vom Kutschbock herunter.
«Das Rad ist gebrochen, wir können nicht weiter. Nach Aluschta ist es noch eine Werst 9 .»
«Was kann man denn tun?»
«Das muss gerichtet werden.»
«Werden wir lange stehen bleiben?»
«So drei Stunden.»
«Ich komme zu spät, ich werde die Mutter nicht mehr sehen!», war das Erste, was Sascha durch den Kopf ging. Doch das Gefühl der Selbsterhaltung ist allen Menschen eigen, und so versuchte Sascha, ihre verzweifelte Ungeduld zu bezwingen. Sie ging mit den anderen Passagieren zu Fuß zur nächsten Station, aß dort einen Borschtsch zu Mittag und machte, um die Zeit herumzubringen, mit dem fröhlichen Kadetten einen Spaziergang. Sie folgten einem steinigen Weg, als plötzlich ein ungewohntes, unbekanntes Getöse Sascha innehalten ließ.
Sie war noch nie zuvor gereist, hatte nichts gesehen außer Moskau und dem Dorf, in dem sie geboren wurde. Voller Neugier blickte sie um sich, horchte aufmerksam und rief plötzlich laut:«Das Meer!»
Ja, das Meer, laut, aufgewühlt, mit seinen schweren, graublauen Wogen; geheimnisvoll, furchterregend und zugleich überwältigend in seiner Erhabenheit und grenzenlosen Tiefe.
«Das also ist das Meer!»Sascha lief zum Ufer; das Wasser rollte auf sie zu und von ihr fort; die ewig gleichförmige Bewegung der Wellen peinigte und verstörte Sascha. Sie war tief erschüttert.
«Das Meer, das Meer!», wiederholte sie, und eine ihr noch unbekannte Erregung krampfte ihr Herz zusammen.
Lange sah sie
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