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Lied ohne Worte: Roman (German Edition)

Lied ohne Worte: Roman (German Edition)

Titel: Lied ohne Worte: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sofja Tolstaja
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Samowar, Kaffee und erste Radieschen standen dort und Blumen, die Sascha so sehr mochte. Die helle Sonne warf ihre Strahlen auf das Parkett des großen Raumes, und auch Dmitri selbst wirkte überaus einfühlsam; doch kaum hatte Sascha das Haus betreten, wurde sie von ihrer Trauer derart übermannt, dass es unmöglich war, sie anzublicken, ohne selbst in Tränen auszubrechen…
    «Und Mama, wo ist sie? Wo?», wiederholte sie immerfort voller Entsetzen und Verzweiflung.
    Diese Frage verfolgte sie quälend, und ebenso dringlich wie vergeblich suchte sie nach einer Antwort. Die rasenden, unterdrückten Schreie mit der Frage«Wo, wo nur ist sie?»waren im ganzen Haus zu hören, als Sascha alle Zimmer abschritt: das Schlafgemach der Mutter, ihr eigenes Zimmer daneben, den Salon, die Terrasse – das Nest ihrer Jungmädchenzeit, das ihr ihr ganzes Leben lang so viel bedeutet und das ohne die Mutter all seinen Liebreiz verloren hatte.
    «Nein, ich kann, ich kann hier nicht sein; noch heute reise ich wieder ab! Mein Gott, mein Gott!…»
    Am Abend desselben Tages beschloss Sascha zur Enttäuschung Pjotr Afanassjewitschs, nach Moskau zurückzukehren, aber dieses Mal nicht von der kleinen Bahnstation, sondern über die Gouvernementshauptstadt in der Nähe, wo sie zu übernachten und am Morgen mit dem Schnellzug abzureisen gedachte. Sich nachts auf den Weg zur Bahnstation zu machen, war allzu gefährlich: Am Tag war an der Brücke der Fluss über die Ufer getreten, der Schlitten könnte im Wasser stecken bleiben und das Pferd ertrinken.
    Pjotr Afanassjewitsch war betrübt. Er hatte mit Timofejitsch junge zartblättrige Blumensetzlinge in die Treibkästen umgepflanzt, voller Vergnügen Radieschen geerntet und liebevoll die frischen Gurkenblüten betrachtet. Das weiche, helle Rosa der Pfirsiche in der Orangerie versetzte ihn ebenfalls in Entzücken, und sich von alldem losreißen zu müssen, war für ihn ein großer Verlust.
    Der Gasthof in der Gouvernementshauptstadt, in dem sie unterkamen, lag am Markt. Von Gram gepeinigt und müde, kleidete Sascha sich sogleich aus und legte sich schlafen.
    Als sie morgens erwachte, war Pjotr Afanassjewitsch bereits unterwegs, um sich im Auftrag des Bruders Dmitri nach den Preisen für Hafer zu erkundigen.
    Sascha stand auf, trat ans Fenster, und plötzlich war es ihr schrecklich, allein zu sein. Die Fenster gingen auf den noch menschenleeren Marktplatz. Auf den Fensterbrettern saßen Tauben; Sascha nahm ein Stück Weißbrot, das vom Abendtee übrig geblieben war, vom Tisch, riss es in kleine Stücke und streute sie auf der Fensterbank aus. Die Tauben flogen erschrocken gurrend auf und warfen sich dann auf das Brot, das sie sich gegenseitig aus den Schnäbeln schnappten. Sascha beobachtete sie lange und fühlte sich nicht mehr so allein. Sie erinnerte sich an ein großartiges Bild von Jaroschenko 10 , das sie in der Tretjakow-Galerie 11 in Moskau gesehen hatte, und sagte leise:«Ja, überall ist Leben!»Eifrig machte sie sich dann daran, das Zimmer aufzuräumen und zu packen. Pjotr Afanassjewitsch war immer noch nicht zurück. Während Sascha ihn ungeduldig erwartete, schaute sie wieder aus dem Fenster. Zwei Kühe liefen über den Platz und fraßen dort liegen gebliebenes Heu.
    «Wer hat denn die Kühe herausgelassen?», fragte Sascha den Bediensteten, der den Tee bereitete.
    «Nun, am Platz wohnt eine Alte, die Kühe hält, denn hier bekommt sie fast das ganze Futter umsonst.»
    «Wie, umsonst?»
    «An drei Tagen in der Woche ist Markt, und alle, die kommen, bringen Stroh, Heu und Hafer mit. Überall bleibt etwas liegen. Die Alte lässt die Kühe heraus, die sammeln alles auf und sind für den ganzen Tag satt… Ja, sogar sie selbst sammelt noch etwas auf. Davon lebt sie also, dass sie Kühe hält. Die Milch verkauft sie.»
    «Wie bemerkenswert!», dachte Sascha.«Darauf wäre ich nie gekommen! Wie wenig wissen wir doch über das wahre Leben! Ja, überall ist Leben.»
    Schließlich kehrte Pjotr Afanassjewitsch zurück und brachte etwas in einem Beutel mit.
    «Was hast du da?», fragte Sascha.
    Mit spitzbübischem Lächeln öffnete Pjotr Afanassjewitsch den Beutel und schüttete Samen in seine Hand.
    «Die hat mir der Verwalter der Schatilows gegeben. Das sind ganz bemerkenswerte Samen… Und dann hat er mir noch erklärt, wie man Rosen veredelt. Will man eine schwarze Rose züchten, so muss man sie auf ungarischen Flieder pfropfen oder auch auf eine Eiche… Ich werde das unbedingt einmal

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