Lied ohne Worte: Roman (German Edition)
Tod besser ist als das Leben. Denn die Seele ist lebendig, lebendig ohne die Bürde des sündigen Körpers.»
Sascha hörte die trostreichen Worte Warwara Iwanownas, wollte sich trösten lassen, doch es war unmöglich.
Am Morgen des nächsten Tages war Saschas Mutter wie neu belebt. Sie bat darum, ihr den feinen Morgenrock anzuziehen, verlangte nach dem schwarzen Spitzenhäubchen und bestellte, nachdem sie sich vom Bett erhoben hatte, Tee auf das Zimmer.
«Lasst uns Saschas Ankunft feiern», sagte sie.«Öffne das Fenster, ja, genau so. Wie schön das Meer ist, hier will man gar nicht sterben.»
Frische Meeresluft strömte ins Zimmer. Vor den Fenstern des Hotels standen noch die herbstlichen Chrysanthemen, deren unbewegte, erfrorene Blüten bunt in der Novembersonne leuchteten. Diese Novembersonne, die ihr helles Licht auf das bleiche Antlitz der Sterbenden warf, war nicht mehr jene Sonne, die im Frühling Wachstum und Leben schenkt. Sie war hoffnungslos und kalt. Ihre Strahlen spiegelten sich im ruhigen Meer. Es war, als ob feine goldene Drähte sich in den Wellen kräuselten.
Die Kranke blickte traurig und unbewegt über das Meer in die Ferne.
«Dmitri, komm her», sagte sie zu ihrem Sohn.«Ich werde bald sterben. Behütet Sascha, sie wird sich etwas antun… Hörst du, Dmitri, ich gebe sie in deine Hände. Ich kenne sie, wir haben einander allzu liebgehabt…»
Der vertraute Glanz ihrer Augen erstrahlte wie zum letzten Mal, und der Kummer um die geliebte Tochter belebte sie.
Die Kranke verstummte, atmete schwer, und Tränen rannen aus ihren augenblicklich wieder erloschenen Augen.
«Vielleicht werden Sie ja wieder gesund…», begann Dmitri, doch er konnte nicht lügen.«Sie wissen, wie sehr ich Sascha liebe, ich werde sie nicht allein lassen und sie zu trösten versuchen, soweit möglich. Machen Sie sich doch nur keine Sorgen.»
Die Kerzen wurden entzündet, alle versammelten sich im Zimmer der Kranken, Warwara Iwanowna schenkte Tee ein; nichts Finsteres lag in der Situation, doch alle spürten, dass der Tod bereits im Raum anwesend, nahe war; deshalb konnte niemand etwas sagen, nicht essen noch trinken.
Am nächsten Abend begann die Kranke sich hin- und herzuwälzen, klagte über Schmerzen in der Seite und bat, nach dem Arzt zu schicken. Der Arzt kam und sagte, die Kranke werde die Nacht nicht überleben. Man schickte nach einem Priester. Die Kranke legte laut die Beichte ab, empfing die heilige Kommunion, und nachdem der Priester gegangen war, bat sie den Arzt, ihre Leiden zu lindern. Der Arzt brachte Morphium, setzte die Spritze an und stöhnte plötzlich ärgerlich auf. Die Nadel war abgebrochen. Er zog sie langsam aus der Seite der Kranken wieder heraus und spritzte eilig ein zweites Mal.
«Was haben Sie mit mir getan?», fragte die Kranke.
«Was spüren Sie denn?»
«Ich bin versteinert… ich spüre… nichts… Was ist das?», rief sie plötzlich.
Sascha und ihr Bruder sprangen zu ihr, bedeckten ihre Hände mit Küssen, kaum vernehmlich sagte sie:«Lebet wohl…»- und fiel in Bewusstlosigkeit. Warwara Iwanowna betete leise in der Ecke. Nastasja murmelte weinend irgendetwas. Die Agonie setzte ein. Alle erstarrten in Erwartung des erhabenen, furchterregenden, gewaltigen Ereignisses – des Todes. Vier Stunden später war Saschas Mutter dahingegangen.
Laut schluchzend und außer sich vor Verzweiflung lief Sascha, vom Bruder gestützt, in den Marmorsaal. Während der gesamten Zeit, als der Leichnam der Mutter noch im Hotel war, während der Beerdigung und auch später war Sascha in solcher Verfassung, dass man um ihr Leben bangte. Sie wollte Hand an sich legen, ihren Ehemann und den Sohn vergessend. Erst als der Bruder ihr sagte, dass man nach Hause fahre, kam sie zu sich und wurde ruhig.
Drei Tage später war Sascha zu Hause, und als sie den kleinen Aljoscha auf den Arm nahm, kehrte sie zum ersten Mal ins Leben zurück. Ihr Sohn war das Einzige, das sie noch an das Dasein zu binden vermochte.
V
Die Trauer verzehrte Sascha so sehr, dass sie den ganzen Winter über krank darniederlag und zu Beginn des Frühlings wie ein Schatten ihrer selbst sich dahinschleppte, empfindlich, mager, finster. Bisweilen begann sie unvermittelt zu weinen und lief in ihr Zimmer, wo sie dann ganze Tage bewegungslos dasaß, ohne etwas zu sich zu nehmen, ohne jemanden sehen zu wollen, und immer wieder vor sich hin sprach:«Mama, wo bist du? Wo?»Die gütige, aufrichtige Anteilnahme ihres Mannes erboste sie; der
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