Lied ohne Worte: Roman (German Edition)
aufs Meer, bis der junge Kadett, der Muscheln und Steine gesammelt hatte, sie zur Eile antrieb und sie drängte, zur Station zurückzukehren.«Die Kutsche wird abfahren, Alexandra Alexejewna», rief er ihr zu.
Nachdem Sascha mit ihrem Begleiter an der Station angekommen war, mussten sie noch eine ganze Stunde warten, doch schließlich war alles gerichtet, und sie fuhren weiter.
Je näher sie Jalta kamen, desto banger wurde Sascha. Da, endlich, die Lichter Jaltas, immer näher und näher… Sascha wollte gar nicht mehr ankommen, doch die Postkutsche hielt, und eine ihr wohlbekannte Stimme rief fragend:«Sascha?»
«Ja, was ist mit Mama?»- Was nur wird ihr der Bruder antworten?
«Sie ist am Leben, aber sehr schwach.»
«Gott sei es gedankt! Wo ist sie?»
«Im Hotel ‹Rossija›.»
«Wer ist bei ihr?»
«Stell dir vor, wir haben hier Warwara Iwanowna getroffen, und Mama ist so froh darüber, dass die Gute ihr kaum von der Seite weicht.»
Als Sascha ins Hotel kam, wagte sie nicht, sogleich zur Mutter hineinzugehen. Zuerst sollte die Kranke unterrichtet werden, und Sascha musste sich auf den schweren Anblick der sterbenden Mutter vorbereiten.
IV
Man wies Sascha ein großes, kaltes Zimmer zu; ein anderes gab es nicht, alles war belegt. Die Kerze wurde entzündet, flackernd erleuchtete sie die Umgebung des kleinen Tisches, auf dem sie stand, der große Raum indes blieb in geheimnisvolles Dunkel gehüllt; das Gepäck wurde gebracht… Sascha aber stand immer noch, ohne abgelegt zu haben und bebend, wie gefesselt, mitten im Zimmer.
Der Bruder, der die Mutter nach Jalta begleitet hatte, ging, ihr die Nachricht von Saschas Ankunft zu überbringen. Unterdessen schickte er Warwara Iwanowna, eine entfernte Verwandte der Familie und gute Freundin der Mutter, die ihr Leben lang in Klostern gelebt hatte und nun zur Kur nach Jalta gekommen war, zu Sascha.
«Saschenka, ich grüße dich, leg doch ab, was stehst du denn so da?»
«Warwara Iwanowna, Liebe, seien Sie gegrüßt. Wie schön, dass Sie hier sind, ich habe solche Angst, Mama wiederzusehen, wie steht es um sie, sehr schlecht?»
«Es ist das Ende. Sie wird glücklich sein, dich zu sehen. Lass uns gehen, Saschenka, sei stark, alles liegt in Gottes Hand, man muss demütig sein und Ihn um Hilfe bitten.»
Im Flur kam Saschas Bruder ihnen bereits entgegen. Vor der Tür zum Zimmer der Mutter blieb Sascha stehen und bekreuzigte sich. Die alte Hausgehilfin Nastasja, die Schritte gehört hatte, öffnete leise die Tür und begann, als sie Saschas ansichtig wurde, sogleich zu weinen.
«Wer ist dort?», fragte mit sterbender Stimme die Kranke.
Entschiedenen und schnellen Schrittes trat Sascha an das Bett der Mutter, beugte sich rasch, ohne sie anzusehen, hinunter, küsste sie auf die Wange und ihre Hand und sank dahin.
«Schade, dass du im Herbst hergekommen bist, Saschenka, im Frühling ist es hier viel schöner», sagte die Mutter.
«Wir wollen doch nicht über mich sprechen, Mama, Liebe, wie geht es Ihnen?»
«Schlecht. Der Arzt hat mir Sülze aus Kalbsfuß angeraten, aber ich kann das nicht essen, es würgt mich… Dann brauche ich es doch auch nicht?»
Unvermittelt empfand Sascha eine gewisse Entfremdung der kranken Mutter gegenüber, die im Moment ihres Wiedersehens von Kalbsfußsülze sprach. Voller Schmerz begriff sie, dass der Tod bereits nahe war und der leidende Körper sich von der Seele zu trennen begann.
«Aber nein, Sie müssen sich doch nicht quälen, Mama. Wo tut es Ihnen weh?»
«Überall. Und das Atmen fällt mir schwer. Dreht mich um», wandte sie sich an den Sohn und Nastasja.
Die beiden betteten die Kranke auf die andere Seite.
«Doch nicht so. Saschenka, komm, reib mir die Seite ein.»
Mit zitternden Händen rieb Sascha den Rumpf der Mutter ein, und als diese ruhig geworden war, lief sie voller Verzweiflung aus dem Zimmer, setzte sich an einen kleinen Tisch und brach in Tränen aus.
Der finstere, graue Saal war leer. In der Mitte des Raumes plätscherte monoton der Wasserstrahl eines Brunnens in ein marmornes Becken. Sascha gab sich ihrem Schmerz wie wahnsinnig hin, verfluchte das Schicksal, die böse Macht, die ihr die geliebte Mutter nahm.
Warwara Iwanowna trat leise zu ihr.
«Saschenka, nimm Gottes Willen demütig an. Ja, kann man sich denn derart gehenlassen? Das ist Sünde.»
«Was ist denn Sünde, und was ist das für ein Gott, der solches Leiden schickt?»
«Ach, du Unglückliche, Ungläubige; glaube, meine Liebe, dass der
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